John Lee Hooker, Tupelo Blues, 1993

Text/Musik/ John Lee Hooker

Produzent/ Roy Rogers

Label/ Point Blank

In dem Song „Tupelo“ deutet John Lee Hooker an, wie die Bevölkerung auf die Katastrophe reagiert. Was die Menschen dabei empfinden, erfährt man nicht, der Blick gleitet aussen ab. Die Katastrophe wird nicht inszeniert, nur zur Kenntnis genommen. Die Handlung scheint von Ergebenheit geprägt; der Erzähler schickt sich ins Unabänderliche. Nur an einer Stelle begehrt er auf, als er die Schreie der Frauen und Kinder hört und Gott um Hilfe ruft. Aber auch hier deutet die Wiederholung an, dass der Sänger sich wieder in der Musik hat fallen lassen. Der Rythmus bedroht ihn nicht; er ist genauso unabwendbar, wie die Ereignisse, die beschrieben werden. Der Blues ist Trost für das, wovon er berichten muss.

Und da ist da noch etwas anderes. In einer Live-Version von „Tupelo“ weist Hooker auf Elvis Presley hin; beschwört die Geburt des Rock’n’Roll, symbolisiert in der Geburt Elvis Presleys, der die Verbindung von Blues und Country nicht nur vollzog, sondern auch damit berühmt wurde.

Hooker zelebriert diese Geburt als Offenbarung; gegen Ende des Songs sagt er mit nachlässiger, aber klar abgehobener Sprechstimme: „There Elvis was born. Elvis Presley. One of the greatest people ever born. The Rock’n’Roll king. That was my home too. Right down in Clarksdale. Dann folgen die letzen Zeilen, wie um den Verweis zu kaschieren: „Tupelo is gone/ Tupelo is gone/ Got destroyed. By the rain and the wind and water“.

Talking Heads, Speaking In Tongues, 1983

Produzent/ Talking Heads

Label/ Sire

„Speaking In Tongues“ ist ganz auffällig: Das Album wurde nicht von Brian Eno produziert. Auch fehlt die grosse Besetzung. Der Kern, die Ur-Besetzung macht die Musik und anders als früher zeichnet David Byrne nicht mehr allein verantwortlich für die Musik. Sondern jeder der Bandmitglieder bringt seine Ideen in die Songs, die er dann zusammenfügt.

„Speaking In Tongues“ hat sehr viel mit dem ersten Talking Heads Album gemein. Es ist die Rückbesinnung auf ihren Ausgangspunkt, ohne aber auf die vorallem mit Eno gemachten Erfahrungen, was Sound und afrikanischen Einfluss betrifft, zu verzichten. Nicht mehr soviel Percussion und dichter Sound, stattdessen kürzere, straffere Songs, in denen neben dem typischen Talking Heads-Funk die Gitarre und Byrne’s Stimme wieder eine grössere Rolle spielen. Er singt nicht mehr so getragen, sphärisch, sondern variationsreicher, in „Swamp“ sogar schon dreckig und in dem Love-Song „This Must Be the Place“ einfühlsam, lyrisch. „Burning Down The House“, das erste Stück, ist ziemlich aggressiv. Nur „Moon Rock“ und „Pull Up The Roots“ sind den beiden Platten davor am nächsten. „Speaking In Tongues“ ist hervorragend. Hier ist auch die musikalische Reise Byrne’s in ethnische Gefilde zu Ende. „Home – is where I want to be, but I guess I’m already there, I come home – she lifted up her wings, guess that must be the place“.

Various, The Inner Flame – A Rainer Ptacek Tribute, 1997

Produzent/ Howe Gelb, Robert Plant

Label/ Atlantic

Der Name Rainer Ptacek – Freunde seiner Musik nannten ihn meist nur Rainer – tauchte erstmals Mitte der 90er in meiner Sammlung auf. Ein Bekannter hatte mir eine Mischkassette zusammengestellt und ziemlich weit hinten die mir bis dahin unbekannte Musik versteckt. Ich recherchierte, fand das wohl beste Album das Rainer je produziert hatte („Worried Spirits“) und stiess auf seine Biographie.

Die Eltern des im Juni 1951 in Ost-Berlin geborenen Rainer flogen mit ihm bereits 1956 nach Chicago. Dort lernte er den Blues lieben, doch bestimmte erst der Umzug nach Tucson/Arizona in den frühen 70ern das, was sich dann musikalisch entwickelte und heute mit Namen wie Giant Sand, Howie Gelb und Calexico verknüpft ist.

Ende der 90er wurde bei ihm eine Gehirntumor diagnostiziert. Das war besonders übel, weil Rainer, der nur von seiner Musik und einem Instrumentenladen lebte, nicht krankenversichert war und die Rechnungen für die teure Theraphie nicht zahlen konnte. So rief sein Freund Robert Plant von Led Zeppelin einige Musiker zusammen, um das Album „The Inner Flame“ einzuspielen. Mit von der Partie waren u.a. Giant Sand, Jimmy Page, Emmylou Harris, Victoria Williams, Vic Chesnutt, PJ Harvey, Madeleine Peyroux und Jonathan Richman. Auf den meisten Stücken dieses Tribute-Albums ist auch Rainer selbst an der Gitarre zu hören. Der gesamte Erlös kam ihm zugute und die Therapie versprach baldige Besserung. Doch der Tumor kam wieder. Am 12. November 1997 musste der erst 46-jährige Rainer Ptacek die Welt verlassen.

Heute weiss kaum noch jemand, dass Rainer Ptacek einer der wichtigsten Bluesgitarristen war, der jemals in der DDR geboren wurde. Sein musikalisches Gesamtwerk erscheint auf kleinen Labels und wird von seiner Witwe verwaltet.

Neko Case, Neon Grey Midnight Green, 2025

Produzent/ Neko Case

Label/ Anti-

„Neon Grey Midnight Green“ ist das achte Album von Neko Case. Ein sehr persönliches Werk, bei dem die mittlerweile 55-jährige jeden Aspekt des Projekts im Griff behielt – sie schrieb nicht nur alle Lieder, sondern produzierte sie auch selbst, und die Aufnahmen erfolgten mehrheitlich in ihrem eigenen Studio. 

Die Songs sind eine Hommage an Freunde und Wegbegleiter, die Case verloren hat. Letzlich markiert das Album einen weiteren Schritt auf dem Gebiet des autobiografischen Schreibens – den ersten machte sie vor zehn Jahren mit „The Worse Things Get…“ Während Case damals noch nach innen blickte, sind die neuen Stücke eher souverän skandierte Charakterstudien und Liebesbekundungen. Trotz Streichern wirken Lieder wie „Little Gears“ oder „Rusty Mountain“ knochentrocken und befreit vom letzten Quäntchen Lieblichkeit. Früher wurde Neko Case oft in die Country-Schublade gesteckt, jetzt klingt sie eher wie eine Sirene, die sich zwischen dem Soundtrack von „Twin Peaks“ und Moritaten im Sinne von Tom Waits zu Hause fühlt – und Komplexes nicht mal mehr ansatzweise scheut. Entstanden sind Songkreationen, die herausfordern und sich als absolut einprägsam erweisen. Respekt.

JD McPherson, Let The Good Times Roll, 2015

Produzent/ JD McPherson, Mark Neil

Label/ Rounder Records

Warum gerade die Musik aus den Sun Studios in Memphis in den Fünfzigerjahren so erfolgreich war, darüber kann man spekulieren. Die Kombination aus Talent und idealem Zeitpunkt gab wohl den Ausschlag. Oft fing Sam Phillips in seinem schäbigen Studio während ein paar Wimpernschlägen Magisches ein. Elvis und die anderen jungen Rockabillies legten los, bis ihre wilde Fusion aus Country und Blues den Siegeszug um die Welt antrat. Seither versuchten viele Musiker, den Geist von Sun Records neu zu beleben. Sie gingen nicht spontan ans Werk, sondern puristisch.

Anders JD McPherson aus Tulsa: Der Mann bekennt sich zum Sound der Fifties (EIvis, Eddie Cochran, Little Richard), erschafft aber aus dieser Inspiration Originelles. McPherson und sein Quintett rocken unwiderstehlich los. Das Titelstück ist eine reine Freude, „Bridgebuilder“, eine Ballade, die McPherson mit Dan Auerbach schrieb, geht in Richtung Doo-Wop, „The All-American“ zeigt Traditionsbewusstsein. Das Album erinnert daran, dass fetischisierte Momente der Musikgeschichte – die Beatles im Cavern Club, Dylans Anfänge, Woodstock – nicht glamouröser waren als all das, was wir heute erleben. Im Zentrum steht – damals wie heute – die Erruption.

Green on Red, The Killer Inside Me, 1987

Produzent/ Jim Dickinson

Label/ Mercury

Alte Säcke revisited – warum auch nicht? Nun also die formidablen Green On Red kamen aus Tucson, Arizona und sie glaubten wirklich an die Flucht nach Mexiko, an Neo-Romantizismus im Sinne eines Dekadenz-Westerns, an die Countryballade, an ihren hemdsärmligen, daherblechernden, mit Inbrunst den Prediger simulierenden Sänger Dan Stuart, an ihren „swingenden“ Backgroundchor („Glory, Glory Hallelujahhhh!“), billig wie ein aufriffelnder Schal, aber zum Wegwerfen zu schade. Und ausgerechnet dieser Song trägt den Namen „Whispering Winds“), an klumpige, schrumpelige, schunkelige Gitarrenrhythmen und Soli; sie glauben an die schwere triefige Ballade („Born To Fight).

„Killer Inside Me“, das ist eine Platte voll mit harten, unschönen Knallsongs von Männer, die darauf bestehen, in den wirklich abgetragendsten Kleidern rumzulaufen, nicht weil sie „auf alt“ getrimmt sind, sondern weil sie nicht anders können, und Songs singen wie „We Ain’t Free“…“You take the high road and I take the low“. Ausserdem haben selbige viel viel Zeit, und so setzt die Wirkung erst nach mehrmaligem Gebrauch ein. In ihrer Eindringlichkeit verbreiten sie eine geballte, ja fast manische Ladung an Emotionen. Das Album ist nicht nur was für Nostalgiker.

Joan Armatrading, Into the Blues, 2007

Produzent/ Joan Armatrading

Label/ Hypertension

„All the way from America“ kam die 1950 geborene Joan Armatrading als Kind von den Westindischen Inseln nach Grossbritannien. Mit sieben spielte sie auf dem Klavier ihrer Mutter, ihre erste Gitarre kostete drei Pfund, sie brachte sich das Spielen selbst bei und komponierte ihre ersten eigenen Songs, als sie 14 war. Seitdem hat sie die Gitarre praktisch nicht mehr aus der Hand gelegt. Zweiundzwanzig Studioalben hat sie bis heute veröffentlicht. Ihr stilistisch zwischen R&B, Jazz, Folk und Pop pendelndes Werk („Love And Affection“, „Show Some Emotion“ usw.) hat jüngere Singer/Songwriterinnen wie Tracy Chapman, Alanis Morissette oder Macy Gray inspiriert.

Vier Jahre hat sich Armatrading Zeit gelassen, um ihr Studioalbum „Into the Blues“ aufzunehmen. Ein Bluesalbum? Mehr als das. Joan Armatrading zeigt hier, dass sich ihre Kreativität auch nach einer mehr als dreissgjährigen Karriere nicht abgenutzt hat. Mit Blues-Gitarre, Klavier und Mundharmonika taucht sie tief in die Welt des Blues ein, verknüpft ihn rau, leidenschaftlich, abwechslungsreich mit Soul, Pop und Gospel. Vielleicht kann man solchermassen entspannte, durchdachte und dennoch zutiefst emotionale Musik tatsächlich erst machen, wenn man einen gewissen Schatz an Lebenserfahrung gewonnen hat – „Into the Blues“ kann daher nicht das Album einer 20-Jährigen sein. Die Frau verfügt immer noch über eine phänomenale Stimme. Und sie schreibt tolle Songs. 13 Eigenkompositionen enthält die Platte, auf welcher Joan sämtliche Instrumente spielt ausser Schlagzeug. Von der Stimmung her klingt das Ganze überraschend leichtfüssig; trotz der paar nachdenklichen Balladen. Aber noch eine letzte Bemerkung zum Blues auf der Platte: Er liegt definitiv näher bei RL Burnside als bei Robert Cray direkt und ungekünstelt. 

Tom Waits, Downtown Train, 1985

Text/Musik/ Tom Waits

Produzent/ Tom Waits

Label/ Island

Der Song „Downtown Train“ ist aus dem Album „Rain Dogs“. Er schildert die überfüllten U-Bahnen, in denen all diese Brooklyn-Girls sitzen, die in Manhattan arbeiten oder dort Arbeit suchen, um aus ihren kleinen Welten auszubrechen. Aber natürlich ist damit auch eine offensichtlich unerfüllte Liebesgeschichte verbunden: Der Erzähler hat sich eines der Mädchen ausgeguckt, sich offensichtlich verliebt, hat sie auch verfolgt, kennt ihr Fenster und ihren Treppenaufgang, läuft ihre Strasse runter, an ihrer Haustüre vorbei und bleibt an der Ampel stehen. Und natürlich hofft er, sie wieder in der U-Bahn zu sehen, auch wenn er wie jede Nacht einsam zurückbleibt: „Will I see you tonight on a downtown train/ Every night, every night it’s just the same/ You leave me lonely.“

Das Lied ist bei Tom Waits eine musikalische Miniatur, die er in seinem unnachahmlich knurrenden Gesang vorträgt, ein Lied, das wüst und rumpelig arrangiert ist und dessen Melodie mehr zu erahnen, als zu hören ist. Das Hitpotential des Songs erkannte Rod Stewart, der mit seiner Version weltweit in den Charts landete.

The Roches, Keep On Doing, 1982

Produzent/ Robert Fripp

Label/ Warner Bros.

Auf ihrem dritten Album sind die Roches deutlich reifer, erwachsener geworden. Es gib eigentlich nur ein skurriles Stück „The Largest Elizabeth in the World“, niemand quäkt oder gröhlt mehr querbeet, und plötzlich jubilieren Suzzy, Terre und Maggie ein übers andere Mal „I Fell in Love“ mit Engelsstimmen, anstatt wie früher ihren Liebhabern hinter deren Rücken freche Grimassen zu schneiden. Man merkt, dass sich die drei Schwestern viel Gedanken über ihr Tun und Treiben machen („I wish there was a true love, I wish there was a great art, I wish there was always enough, But I’d not want if I were smart“), ihr Produzent Robert Fripp hat sie dabei musikalisch und vermutlich auch moralisch kräftig unterstützt.

Maggie spielt ein wenig auf dem Synthesizer, Terre greift auch mal zur E-Gitarre und Fripp steuert wirklich gelungene Raumschiff-Klänge mit seinen „Devices“ bei. Ansonsten ist alles beim Alten und Guten geblieben: die Roches singen wunderschöne Lieder, fangen ihr Album sogar mit Händels „Hallelujah“ an (derb-amerikanisch und doch respektvoll) und passen mit ihrer Musik hervorragend in graue Regen-Nachmittage, an denen man am liebsten zu Hause bleiben möchte. Oder wenn einer in den Gesangsverein latscht, wegen der Geselligkeit: „You have serious taste. You make me sob.“

Madness, Full House (The Very Best Of Madness), 2017

Produzent/ Charlie Andrew, Clive Langer u.a.

Label/ Union Square Music

Was gibt es noch von über Madness zu sagen, was nicht schon hundertmal gesagt wäre? Madness sind Burschen. Nichts besonderes. So, wie bei dir in der Nachbarschaft (selbst wenn du nicht in England lebst). Madness sind natürlich typisch englisch: entspannt, versponnen, verspielt. Eben die typische Überlegenheit der englischen Rasse.

Wenn du Madness noch nicht kennst, hörst du dir am besten „Full House“ an, das ist sowas wie ihre Greatest Hits. Da gibt es ein paar eingängige und einfallsreiche Songs. Pop/Beat aus den Swinging Sixties. Auch den Rest kannst du gut (mehr oder weniger gut) gebrauchen. An Abenden, an denen schon geheizt werden muss, bei englischem Kuchen, Drops, Komödien oder Sport im Fernsehen, Spielen zu zweit, Augsburger Puppenkiste, John, Paul, George und Ringo, Marty Feldman, Michael Caine, Harold Wilson, Graham Greene, Miss Marple, Julie Christie, Alan Silitoe, Lewis Carrol, Laurel & Hardy.

Madness machten Ende der 70er und Anfang der 80er ein paar geniale Pop-Platten. Madness ist aber auch für die Zeit danach. Wenn Madness nachdenken, brauchst du nicht mitzudenken. Wenn sie es mit ihren Verrücktheiten übertreiben und in alberne Spielereien ausarten (auf der Hälfte dieses Albums), kannst du dich beruhigt zurücklehnen und schmunzeln: „Oh ja, sie spinnen manchmal diese Engländer, aber man muss sie mögen.“