Elvis Costello, My Aim Is True, 1977

Produzent/ Nick Lowe

Label/ Stiff

Erste Bekanntschaft mit Elvis Costello machte ich im Herbst 1977 in einem Schallplattenladen in der Nähe vom Piccadilly Circus. Auf „My Aim Is True“ sind für mich nach wie vor ein paar der stärksten Kompositionen Costellos darauf. Was und wie Elvis singt, weist für einen Punk-Rocker viel Gefühl auf. Wenn es einen Vergleich mit Graham Parker gibt, so ist dieser ein wirklicher Optimist gegen den selbstquälerischen Realisten Elvis, der hier in zwölf Songs seine sexuellen Erfahrungen und Missgeschicke erzählt. Musikalisch bewegt er sich einerseits im Rockabilly der 60er Jahre, wie etwa auf „Mystery Dance“ wo er sein erstes sexuelles Erlebnis mit einem Mädchen beschreibt, oder auf „No Dancing“, das an die Ronettes erinnert. Anderseits gibt es immer wieder Rhythm’n’Blues wie bei „Sneaky Feelings“ oder auf „I’m Not Angry“. Und „Alison“ ist wohl nach wie vor einer der schönsten Schmachtfetzen, den ich kenne.

Begleitet wird Elvis Costello auf diesem Album von der unbekannten Gruppe The Shamrocks, produziert hat Nick Lowe, der auch für andere Stiff-Musiker, vorallem aber für Graham Parker verantwortlich ist. Ein zweiter Graham Parker ist Elvis Costello nicht geworden, auch nicht „Elvis is King!“ wie es die hundertfach wiederholte Minischrift auf dem winzigen Schachbrettmuster des Covers verkündet. Eher sowas wie der „Mystery Man“, der feststellt: „Don’t you think, that walking on the water won’t make me a Miracle Man?“

The Beatles, Strawberry Fields Forever, 1967

Text/Musik/ Lennon-McCartney

Produzent/George Martin

Label/ Parlophone

Nicht nur die Beatles entwickelten sie rasend schnell. Ihr Publikum nahmen sie mit. Und so kamen wir mit der Zeit auf die Beatles-Song-Regel: Die Stücke, die einem nicht auf Anhieb gefallen, das sind die wirklich guten. Das galt besonders für die Single, die im Frühjahr 1967 erschien. Auf der A-Seite war „Penny Lane“, ein typisches McCartney-Stück: Eingängig, aber man hatte es auch rasch leergehört. Doch was war das für ein Ding auf der B-Seite? „Strawberry Fields Forever“ war das rätselhafteste Stück, das ich zu diesem Zeitpunkt gehört hatte.

Ich sass in unserer Stube in einem Dorf am Jurasüdfuss, 13 Jahre alt, ein schwieriger Junge. Und hörte diese schöne, traurige Musik, die ersten Akkorde auf dem Melllotron, Johns verlorene Stimme, dann die anderen. „Strawberry Fields“, das war das Waisenheim in Johns Nähe, er verbrachte viel Zeit in dessen Garten, das war ein geheimer Ort für ihn. Als er das Stück schrieb, nahm er viel LSD, gleichzeitig spielte er in „How I Won the War“, einer Groteske gegen den Krieg.

Ich wusste damals nicht, wer ich werden würde. Ich wusste nur, dass sich mein Leben nach dem Hören dieser Musik grösser, schöner, farbiger und trauriger anfühlte. Und dass von jetzt an nichts mehr sein würde, wie es gewesen war. Man tendiert bei Erinnerungen zu Übertreibungen ihrer Bedeutung, aber dieses Stück zu hören, war für mich damals ein Erlebnis. Und ist es bis heute geblieben.

Prince, Sign O’ The Times, 1987

Text/ Musik/ Prince

Produzent/ Prince

Label/ Warner Bros.

„Sign O’The Times“ ist das erste Stück auf der ersten Seite des gleichnamigen Doppelalbums (damals kaufte man noch Platten). Prince singt eine aufs Maximum reduzierte Reportage in Strophenform. Es ist der panoramische Blick auf eine moderne Apokalypse eines Musikers, den man auf früheren Alben als maximalen Hedonisten kennengelernt hat, als singenden Erotomanen, funkig, hart, humorvoll, manchmal sentimental und pathetisch, aber noch nie so düster wie hier.

Der Hurrikan Annie reisst das Dach einer Kirche ab und tötet alle Menschen darin, eine junge Mutter bringt ihr Baby um, weil sie es nicht ernähren kann, ein Cousin raucht im September einen Joint und hängt im Juni an der Nadel. So geht das unentwegt, während Prince die Akkorde in die Gitarre peitscht. Je länger der Song dauert, desto deutlicher versteht sich der Titel als Urteil dessen, was der Sänger beschwört: Die Zeichen der Zeit stehen auf Sturm. „Some say man ain’t happy truly until a man truly dies“ heisst es gegen Ende des Songs. Es kann kein Glück auf dieser Erde geben, höchstens in einer anderen Welt.

Da beschwört einer die Erlösung aus der Qual. Ein zutiefst religiöser, gesellschaftspolitisch konservativer, sexuell libertärer Prediger mit Gitarre. Natürlich klingt das, wie so oft bei schwarzen Musikern, mehr wild als fromm, eher lasziv als demütig, aber es das Stück, das mir am stärksten in Erinnerung bleibt, wenn ich an Prince zurückdenke, der am 21. April 2016 mit 57 Jahren gestorben ist.

The Bangles, Walk Like an Egyptian, 1986

Text/Musik/ Liam Sternberg

Produzent/ David Kahne

Label/ Columbia Records

Die Bangles, vier hübsche Mädchen aus L.A., waren in mehrfacher Hinsicht etwas Besonderes. Erstens standen sie Anfang der 80er Jahre ganz klar in der Tradition der Girl Groups der 60er. Zweitens machten sie keinen richtigen harten Rock, sondern irgendwas zwischen Schlager und Folkrock mit Nachdruck auf Gesang. Man hörte den Bangles offensichtlich an, dass sie von Hippie-Bands wie Byrds, Buffalo Springfield oder Mamas and Papas beeinflusst waren.

Einige Songs schrieben die vier Frauen selbst, andere kamen von Profis und Freunden, darunter Alex Chilton und Liam Sternberg. Auch Prince gehörte zu den Bewunderern der Bangles und hatte den Song „Manic Monday“ für deren Karriere gestiftet ( Und – Hand aufs Ohr – sooo toll war der dann auch wieder nicht). Bis 1986 gingen zwei Millionen Stück des Albums „Different Light“ über die Ladentheken dieser Welt. Und der absolute Hit stand auch fest: Liam Sternbergs Variation des Ägypten-Topos. Das wars dann aber auch. Zuviel Erfolg setzte den Girls zu sehr zu. 1989 trennten sich die Bangles. Seit 1999 gibt es sie wieder. Wäre man den Bangles feindlich gesonnen, würde man ihnen verlorene Energie attestieren. Ich sage eher ansprechende Hausfrauen-Rockmusik. Vielleicht muss man sie wirklich live gesehen haben.

Uncle Tupelo, No Depression, 1990

Produzent/ Sean Slade, Paul Q. Kolderie

Label/ Columbia Records

Uncle Tupelo waren eine verlässliche Grösse im entstehenden Americana-Genre der frühen Neunziger, Stichwort: Flanellhemd. Ihr Debütalbum „No Depression“, hatte in unnachahmlicher Weise Post Punk und Alternative Rock mit Country und Folk verbunden. Der Titel des Albums war dem gleichnamigen Song der Carter Family aus den 1930er Jahren entlehnt, den die beiden Songwriter der Band, Jay Farrar und Jeff Tweedy, zu einem musikalischen Meilenstein der Grunge-Ära umdeuteten.

Die Themen von „No Depression“ sind vorallem klassische Motive, die das Dasein in einer amerikanischen Kleinstadt, den Traum von Weggehen und die Angst vorm Ankommen berühren. Der Erfolg des Albums verdeutlichte, dass selbst die Generation Punk dem Sentiment des Country erliegen konnte, wenn dieser authentisch klang und nicht als reaktionäre Nashville-Mogelpackung daherkam.

1994 war es dann mit Uncle Tupelo vorbei, das finale Album „Anodyne“ wurde in Austin, Texas aufgenommen und enthielt auch ein Duett mit Doug Sahm. Zwischen 1995 und 2008 erschien „No Depression“ als gedruckte Musikzeitschrift, heute erscheint sie weiter als social-media-intensive Website. Auch Farrar und Tweedy machten mit ihren eigenen Folgebands weiter, insbesondere Tweedys Doppelalbum „Being There“ mit Wilco gilt als „White Album des frühen Americana.

Phil Ochs, The Early Years, 2000

Produzent/ Tom Vickers

Label/ Vanguard

Phil Ochs, ein Zeitgenosse von Bob Dylan und Pete Seeger, war bekannt für seine lyrischen Texte, seine klare politische Haltung und seinen scharfzüngigen Witz. Er selbst lehnte die Bezeichnung seiner Musik als Protestmusik ab und bevorzugte die Bezeichnung „topical music“ ( das Wort „topical“ heisst soviel wie aktuell). Es ging Phil Ochs also nicht nur um Protest und Gegenkultur, sondern um einen direkten Kommentar zu den politischen Ereignissen seiner Zeit.

„Here’s to the State of Mississippi“ beklagt die rassistischen Zustände in den ehemaligen Südstaaten zur Zeit der Bürgerrechtsbewegung. „I Ain’t Marching Anymore“ gilt als Hymne an die Friedensbewegung. Doch die Lieder machen auch vor den eigenen Reihen nicht halt. „Love Me, I’m a Liberal“ etwa ist eine beissend sarkastische Kritik der amerikanischen Linken. Phil Ochs steht an der Grenze zwischen altem Folk und neuer Rock Musik und schaffte es nie ganz, diese zu überschreiten. Gerade durch den Zeitbezug seiner Lieder bekommt man so einen Einblick in das aufgewühlte Amerika der späten 1960er Jahre.

Phil Ochs starb jung. Gezeichnet von schwerer manischer Depression, begann er am 9. April 1976 Selbstmord. Bereits Anfang der siebziger Jahre war er eigentlich schon zu Anachronismus geworden: sowohl Bob Dylans berühmter Griff zur elektrischen Gitarre, als auch das veränderte politische Klima hatten den US amerikanischen Folk nachhaltig verändert.

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Nirvana, Smells Like Teen Spirit, 1991

Text/Musik/ Kurt Cobain, Dave Grohl, Krist Novoselic

Produzent/ Butch Vig

Label/ Geffen Records

Es waren die späten Achtziger, und die Generation X langweilte sich schrecklich, als plötzlich eine chaotische Garagenband aus Seattle die Szene stürmte. Die zerbrechliche Frontfigur mit dem schmutzig-strähnigen Haar und dem Namen Kurt Cobain war genau, wonach sie suchte. Cobain sprach für Millionen von Jugendlichen, die nicht mehr an die Rockmusik glaubten. Man braucht sich nicht in die Musik von Nirvana zu vertiefen, um ihr wichtigstes Thema zu finden: die tiefe Unzufriedenheit mit der Masslosigkeit des Lebens. Und „Smells Like Teen Spirit“ war das Kampflied eines Gefühls, das jeder Heranwachsende kannte, aber keiner aussprach: Angst.

Aber nicht nur das, wofür sie standen, machten Nirvana zu einer wichtigen Band. Ironischerweise löste Cobains achtloser „Direkt-vom-Bett-auf-die-Bühne-Stil“ eine neue Modebewegung aus. Sein Leben auf der Überholspur faszinierte mindestes so stark wie seine Gitarrengriffe. Und wie alle wichtigen Rockepochen hatte auch Grunge eine Drogenkultur. Für seinen selbstzerstörerischen Narzissmus konnte Cobains Droge nur Heroin heissen.

Ausschlaggebend für Nirvanas Aufstieg in den Rockolymp war aber der 5. April 1994, als Cobain sich mit 27 Jahren eine Ladung Schrot durchs Hirn jagte – er beendete sein Leben, das so kurz war wie ein gutes Punkrockalbum. Im Abschiedsbrief hatte er Neil Young zitiert: „Better to burn out than fade away.“ Cobains Tod beflügelte die Verschwörungstheoretiker, aber er gab seiner Musik auch eine Romantik und Einzigartigkeit, die sie unberührbar und über jeden Zweifel erhaben macht.

Calvin Russell, A Man In Full, 2011

Produzent/ Joe Gracey, Jim Dickinson u.a.

Label/ Last Call Records

Das ist eine Kompilation. Den Freunden des Texaners mag gedient sein, wenn ich sage, dass es neben dem Album auch eine DVD mit Videoclips und Live-Aufnahmen gibt. Den Neuinteressierten sei diese Zusammenstellung wärmstens empfohlen, enthält sie doch mit „Crossroads“, „One Meat Ball“, „Soldier“, „Let The Music Play“ und vorallem „A Crack In Time“ die Höhepunkte von Calvin Russells Schaffen.

Der am 3. April 2011 in Austin, Texas gestorbene Amerikanische Singer-Songwriter erzählt Geschichten von Leuten, die am schönen bunten Leben nicht teilhaben, ums nackte Überleben kämpfen müssen und in einer Welt leben, „aus der man zwar heraus, aber in die man nicht hineinsehen kann“. Aus dieser Welt berichtet Calvin Russell. Man trifft Leute, denen die Frauen zulaufen und wieder weglaufen, andere, die vom Kellner ausgelacht werden, weil sie nur einen Dollar besitzen, wieder andere, die verzweifelt ihr letztes Geld zum Wahrsager tragen, bloss um als Wahrsagung zu hören: „Maybe someday things will get better.“

Musikalisch wechseln sich auf dem Album kräftige, groovende Folkrock- und Countryrocksongs in ausgewogener Mischung mit rein akustischen Songs ab. Die Produzenten bauen auf Bewährtes: Akustikgitarre, E-Gitarre, die Gebrüder Waddel als Rhythmusgruppe, Saxophon, Kimmie Rhodes als Backgroundsängerin. Rhodes, die selbst  Songschreiberin ist, kann man nicht genug hervorheben: Gerade durch ihren in vielen Songs präsenten Gesang kommt hier immer die richtige Stimmung auf. Natürlich singt sie nie Duett mit Russell, sondern Background. Hauptinstrument ist die herrlich verlebte, volle, tiefe und kräftige Stimme Russells, der man ohne zu zögern alles glaubt, was sie singt.

Wynton Marsalis and Eric Clapton, Play the Blues, 2011

Produzent/ Ashley Schiff Ramos

Label/ Reprise

Im April 2011 spielten Wynton Marsalis und Eric Clapton in New York drei gemeinsame Konzerte. Dabei suchte Clapton die Songs aus, und Marsalis arrangierte sie. Clapton geht konsequent den Weg weiter, den er 1994 mit „From the Cradle“ eingeschlagen hat und besinnt sich weiter zurück auf den klassischen Blues. Nach „Riding with the King» mit B.B. King und den Tributes an Robert Johnson war er dann im mit dem Album „Play the Blues“ musikalisch in New Orleans angekommen. Die Konzerte mit Marsalis waren nicht nur eine Rückkehr zun den Wurzeln des Blues, sondern zu dessen Wiege im Jazz. Die Posaunen scheppern, und das Banjo ist ebenso Lead-Instrument wie Claptons Gitarre.

Dass das Album Spass macht, ist auf die Virtuosität der Beteiligten und die Setliste zurückzuführen. Dies beginnt mit Louis Armstrongs „Ice Cream“, bei dem sich die Musiker erstmals mit Soli überbieten. Selbst „Layla“ hat sich ein neues Kleid besorgt. Einen warmen Farbton erhält das Album zum Schluss, wenn Gastmusiker Taj Mahal die Führung übernimmt. Ein gelungenes Projekt, bei dem die Evolution vom Blues über den Jazz zum Rock klar wird.

Aretha Franklin, Aretha: Lady Soul, 1968

Produzent/ Jerry Wexler

Label/ Atlantic

Aretha Franklin wurde am 25. März 1942 in Memphis, Tennessee geboren und starb am 16. August 2018 in Detroit. Mit ihr ging etwas zu Ende, sagen wir, minimal übertrieben: die Soul-Moderne. Während David Bowie, Prince, Leonard Cohen und George Michael, die alle zwei Jahre vorher starben, jeder auf seine Art bereits Protagonisten der Pop-Postmoderne waren, ist mit Aretha Franklin die letzte Symbolfigur einer linearen, analogen Erzählung von uns gegangen: die Erzählung von Pop als Motor der Veränderung zum Besseren, als Soundtrack zu Befreiung und Emanzipation.

„Lady Soul“ ist das dritte Album, das Aretha Franklin in der Kombination mit Atlantic-Produzent Jerry Wexler in Muscle Shoals, Alabama aufgenommenen hatte. Das Debüt „I Never Loved A Man The Way I Love You“ hatte ihr Selbstvertrauen gestärkt, die Vielfalt auf „Aretha Arrives“ zeigte die Stärken und Grenzen ihres Talents. „Lady Soul“ konzentrierte sich auf die Stärken. Arethas Leidenschaft für R&B – Don Covays Hymne „Chain Of Fools“ ebenso wie „Since You’ve Been Gone“ mit Franklins unvergleichlichen Background-Sängerinnen The Sweet Inspirations – ist ihrer Leidenschaft für Gospel ebenbürtig: Curtis Mayfields „People Get Ready“, samt perfekter Orchesterbegleitung, arrangiert von Arif Martin.

Eric Claptons Claptons Solo beim Blues „Good To Me As I Am To You“ bezieht zeitgenössische Tendenzen im Rock’n’Roll ein. „A Natural Woman“ ist das Highlight der LP; es ist auch Arethas Reise als Künstlerin, wenn sie diesem wunderschönen Lied der Komponisten Carole King und Gerry Goffin die in Memphis gelernte Ehrlichkeit und Leidenschaft verleiht, und dabei ihre wahre Stimme findet.