John Lennon, Imagine, 1971

Text/Musik/ John Lennon, Yoko Ono

Produzent/ John Lennon, Yoko Ono, Phil Spector

Label/ Apple

Ungeachtet ihrer Popularität klingen Friedenslieder wie „Give Peace A Chance“ oder „Imagine“ unglaubwürdig. Wenn einer vor der Kamera Sätze wie „imagine no possessions/ it’s easy if you try“ von sich gibt und dabei in einer Villa den weissen Flügel bedient, kommt er in dialektische Schwierigkeiten. Wenn der Star seine Musik braucht, um die Diskrepanz zwischen Rolle und Person zu verwischen, erstarrt die Musik zur Mythenträgerin.

John Lennon wurde der Mythos vom Working Class Hero zum Verhängnis. Als Mark David Chapman nach Lennons Ermordung verhört wurde, gab er zwei Tatmotive an. Erstens habe er um jeden Preis berühmt werden wollen. Zweitens habe er einen Artikel gelesen, in dem der Wirtschaftsjournalist Laurence Shames die Besitzverhältnisse der Lennons recherchiert und den Working Class Hero als Grossinvestor, Spekulanten und dreihundertfachen Millionär enttarnt, dessen Staranwälte ihn durch die Löcher des amerikanischen Steuersystems lotsten. Das war im Oktober 1980. Am 8. Dezember 1980 schoss Mark Chapman John Lennon vor dessen New Yorker Wohnung im Dakota-Building nieder. Seither sitzt er im Sicherheitstrakt des Attica-Gefängnisses. Lennons Witwe Yoko Ono lehnt bis heute eine Begnadigung des Mörders ab.

The Rolling Stones, Can’t You Hear Me Knocking, 1971

Text/Musik/ Jagger-Richards

Produzent/ Jimmy Miller

Label/ Rolling Stones

Auf „Sticky Fingers“ gibt es zwei markante Saxophon-Soli von Bobby Keys. Das berühmteste in „Brown Sugar“ und das zufällig enstandene in „Can’t You Hear Me Knocking“. Bobby Keys aus Slaton, Texas hatte Ende der 1950er angefangen Saxophon zu spielen und war kurzzeitig sogar in Buddy Hollys Band. Als er 1969 mit den Stones ins Studio ging war schon ein gefragter Begleitmusiker. Den ersten Song „Live With Me“ nahm Bobby wörtlich: Er lebte mit Keith Richards in Südfrankreich, spielte auf „Exile On Main Street“ und war 1972 auf der Stones-Tour dabei. Auf der Europa-Tour 1973 verpasste er einen Gig, da war es mit den Stones erst mal vorbei.

Doch Bobby Keys spielte weiter: Mit Joe Cocker, B.B. King, Eric Clapton, John Lennon und George Harrison, für Charly Simon, Barbara Streisand und sogar für Lynyrd Skynyrd. In den 1980er war er wieder bei den Stones und bei Keith Richards Soloprojekten. Ab „Steel Wheels“ (1989) spielte die texanische Sax-Maschine auf jeder Tour der Stones. Bei der Australien-Tour im Herbst 2014 trat er nicht mehr an. Die bekannte Dreifaltigkeit der Rockmusik hatte ihren Tribut gefordert. Bobby Keys starb an akutem Leberversagen. Sein Sax hämmert noch immer an den Sargdeckel: „Can’t You Hear Me Knocking?“

Stevie Wonder, Superstition, 1972

Text/Musik/ Stevie Wonder

Produzent/ Stevie Wonder

Label/ Motown

Stevie Wonder wurde 1950 geboren, war von Geburt an blind und natürlich arm. Noch als Kind nahm ihn Berry Gordy von Tamla Motown unter Vertrag und brachte Little Stevie Wonder (eigentlich heisst er Stevland Judkins) 1963 mit dem Album „Fingertips“ auf den ersten Platz in den amerikanischen Charts. „Superstition“ stammt aus dem Jahr 1972. Ursprünglich für ein Album von Jeff Beck gedacht, übernahm dann doch Stevie Wonder das Lied, und zwar auf Drängen Gordys, der alles andere als dumm war. Schliesslich wurde es der erste internationale Erfolg von Stevie Wonder.

Die Originalaufnahme des Songs beginnt mit dem Groove des von Wonder selbst gespielten Schlagzeugs, das in Klirren des Clavinets (ursprünglich war es in Nachahmung des Cembalos entstanden, avancierte dann aber zu einer Ikone des Funk Sounds) und eine viel grössere Abwehrkraft gegen jedes Unheil entwickelt als ein ganzer Berg von Glückssocken. Für besonders schwierige Fälle gibt es immer noch die sehr viel rockigere und ebenfalls nicht schlechte Version von Jeff Beck. Der Gitarrist spielte den Song zusammen mit Stevie Wonder auch mehrmals live.

Tom Waits, Downtown Train, 1985

Text/Musik/ Tom Waits

Produzent/ Tom Waits

Label/ Island

Der Song „Downtown Train“ ist aus dem Album „Rain Dogs“. Er schildert die überfüllten U-Bahnen, in denen all diese Brooklyn-Girls sitzen, die in Manhattan arbeiten oder dort Arbeit suchen, um aus ihren kleinen Welten auszubrechen. Aber natürlich ist damit auch eine offensichtlich unerfüllte Liebesgeschichte verbunden: Der Erzähler hat sich eines der Mädchen ausgeguckt, sich offensichtlich verliebt, hat sie auch verfolgt, kennt ihr Fenster und ihren Treppenaufgang, läuft ihre Strasse runter, an ihrer Haustüre vorbei und bleibt an der Ampel stehen. Und natürlich hofft er, sie wieder in der U-Bahn zu sehen, auch wenn er wie jede Nacht einsam zurückbleibt: „Will I see you tonight on a downtown train/ Every night, every night it’s just the same/ You leave me lonely.“

Das Lied ist bei Tom Waits eine musikalische Miniatur, die er in seinem unnachahmlich knurrenden Gesang vorträgt, ein Lied, das wüst und rumpelig arrangiert ist und dessen Melodie mehr zu erahnen, als zu hören ist. Das Hitpotential des Songs erkannte Rod Stewart, der mit seiner Version weltweit in den Charts landete.

Led Zeppelin, When The Levee Breaks, 1971

Text/Musik/ Memphis Minnie, Led Zeppelin

Produzent/ Jimmy Page

Label/ Atlantic

Das Beste von John Bonham? Schwierige Frage, aber lasst mich an dieser Stelle den Anfangsgroove von „When The Levee Breaks“ nominieren. Tschock-tschock-bam, tschock-tschock-bam, tschock-tschock-bam, tschock-tschock-bam-tschock. Simpel schnörkellos, perfekt. 4/4 zum Schwärmen oder vielleicht besser zum Lufttrommeln. Plant und Page dürfen um den Takt herum spielen, wohlwissend, dass der mächtige Bonzo mit seinen überdimensionierten Schlagstöcken sie immer wieder ein- bzw. auffangen wird. Nur deswegen darf dieser Song eine Länge von über sieben Minuten haben.

Vieles, was über Bonham und Led Zeppelin überhaupt geschrieben worden ist, hat mit Lautstärke zu tun. Bonzo spielte aber nicht nur hart, sondern heavy und sexy, und er ist einer der Gründe, warum Led Zeppelin heutezutage viel aktueller klingen als z.B. Metallica. Man liest auch viel über Bonhams Trinkgewohnheiten und sein jähes Ende. Die Meinungen gehen auseinander, ob Bonzo der liebste Kerl der Welt oder ein gewalttätiges, versoffenes Arschloch war. Darüber habe ich keine Meinung und ehrlich gesagt interessiert mich die Frage überhaupt nicht. Ich nahm ihn nur als Musiker wahr, auf den Platten, die mich in meiner Jugend begleiteten. Die zählen nach wie vor zu meinen Favoriten. John Bonham war nicht nur Schlagzeuger bei Led Zeppelin, er war der einzige Schlagzeuger, den es bei Led Zeppelin hätte geben können.

The Kinks, Waterloo Sunset, 1967

Text/Musik/ Ray Davies

Produzent/ Ray Davies, Shel Talmy

Label/ Pye Records

Die Gegend um Waterloo war für Ray Davies persönlich von grosser Bedeutung. Als kleiner Junge lag er einmal wegen Tracheotomie im dortigen St. Thomas Hospital, und die Schwestern schoben ihn auf den Krankenhausbalkon, von wo aus er auf die Themse blicken konnte, den „dirty old river“ im Song. Auch als Kunststudent, auf dem Weg zur Croydon Art School, war Davies täglich durch Waterloo gekommen.

Der Song erzählt, wie ein einsamer Aussenseiter ein Paar beobachtet, das sich am Bahnhof Waterloo trifft und, in traute Gespräche vertieft, über die Waterloo Bridge weiter Richtung Nord-London geht. Die Beobachtung des Sonnenuntergangs über der Themse und der kleinen Liebesaffäre, die sich dort unten abspielt, bereiten dem Ich das Gefühl, im Paradies zu sein. Beteiligung, körperliche Präsenz macht ihm Angst, kühle Winde drohen.

Der wehmütige Sänger („But I don’t need no friends“) tröstet sich mit der Schönheit des Sonnenuntergangs über der Londoner Skyline. Diese Perspektive ist auch ein Element der Eroberung der Stadt durch neue jugendliche Subjektivitäten, wie sie in den 1960er Jahren imaginär und real stattfand. Die Stadt als unendlicher Möglichkeitsraum bleibt nur als Potenzial unendlich gross, die mit ihm verbundene Angst ist nicht nur die vor der Überwältigung, die man überwinden kann, indem man in eigener Regie high wird, sich seine Überwältigung selbst organisiert, sondern auch die Angst, dieser sich öffnende Stadtraum könne sich verengen, wenn man mit ihm anders als durch Überblicke Kontakt aufnimmt. Das Bekenntnis, keine Freunde zu brauchen, ist auch das Wissen des Dandys, dass mit anwesenden Freunden nichts schöner wird, das schon durch die Beobachtung von Menschen schön ist.

„Waterloo Sunset“ aus dem Sommer 1967 ist eine von Ray Davies gelungensten Kompositionen. Ein schönes, melancholisches, warmes Bild von London im Dämmerlicht.

The Temptations, Papa Was A Rollin‘ Stone, 1972

Text/Musik/ Norman Whitfield, Barrett Strong

Produzent/ Norman Whitfield

Label/ Gordy

Ohne einen Vater, der sich zumindest ab und zu mal zeigt, natürlich auch kein Konflikt mit dem Sohn oder der Tochter. Der Erzeuger, den die grossartigen Whitfield und Strong in dem Lied „Papa Was A Rolling Stone“ als Herumtreiber beschreiben, hat sich dagegen gleich ganz aus dem Staub gemacht. Erst nach seinem Tod erfährt der Sohn, das der Vater ein rastloser Herumtreiber – wahrscheinlich ein Dieb und Säufer – war, der nie Kohle hatte, dafür aber noch drei weitere aussereheliche Kinder gezeugt haben soll. Auch bei seiner Mutter findet der Sohn keinen Trost – sie kann die Gerüchte nur bestätigen.

Das Stück beginnt mit einer langen instrumentalen Einleitung, ein grossartiges Beispiel des Motown-Sounds auf der Höhe seines Erfolg. Die Gitarre von „Wha Wha“ Watson, die Streicher, die eine melancholische Melodie spielen, und eine Trompete, die über der Hi-Hat-Basstimme zu improvisieren scheint. Und wenn man schliesslich schon nicht mehr daran glaubt, setzt die Baritonstimme von Dennis Edwards ein und nagelt einen am Stuhl fest. Der Song ist reinste Dramaturgie, zugleich aber auch Bericht einer sozialen Tragödie, die Tausende von Jungen und Mädchen tagtäglich erleben: Die Anne E. Casey Foundation, die sich für die Zukunft benachteiligter Kinder in den USA einsetzt, hat 2021 Daten herausgegeben, nach denen fast 70 Prozent der afroamerikanischen Kinder mit nur einem Elternteil leben.

The Kinks, Harry Rag, 1967

Text/Musik/ Ray Davies

Produzent/ Shel Talmy

Label/ Pye Records


„Something Else“ ist ein elegantes Album über zivilisierte, normale Belange, die alle Klassen durchziehen. Es klingt unwesentlich, wird aber stillschweigend tiefgreifend. Das letzte Mal, als ich es mir anhörte, war mein Lieblingslied nicht „Waterloo Sunset“, sondern „Harry Rag“. Betitelt nach einem Slang-Wort für Zigaretten, handelt es von den erbaulichen Freuden des Rauchens: die eingefallene alte Frau, die bald ihren letzten Atemzug tun wird und sich für das Leben verflucht, das sie geführt hat, sich eine Zigarette dreht und dann ins Bett legt, und der Typ, der sich vom letzten Penny, den ihm das Finanzamt lässt, die verlockenden Glimmstängel kauft.

Die erkennbare Freude an diesem törichten Genuss erreicht ihren Höhepunkt in Zeilen wie: „Ah, the smart young ladies of the land can’t relax without a harry in their hand“ und „they boast and brag, so content because they’ve got a harry rag“. Man kann sie sich vorstellen, wie sie die Zigarette zwischen den Fingern halten und gekünstelt daran ziehen. Ray Davies hört sich wie ein rustikaler Folksänger an, und die Band spielt wie auf einer Music-Hall-Tanzparty, was fast ein zu grosser Rahmen wäre; sie könnten auch in einem Pub auf der kleinen Bühne stehen. „Bingo!“, quietscht Dave Davies auf dem Fade-out, ausser sich vor Freude.

Bob Dylan, Maggie’s Farm, 1965

Text/Musik/ Bob Dylan

Produzent/ Tom Wilson

Label/ Columbia

Am 24. Juli 1965 stakste ein chaplinesker junger Mann in schwarzer Kluft, mit gepunktetem Hemd und Sonnenbrille über das Gelände des Newport Folk Festival auf Rhode Island. Wie anders hatte der 24-Jährige ein Jahr zuvor gewirkt, als er am gleichen Ort in Jeans und Arbeiterhemd den Song „Mr. Tambourine Man“ vorstellte! Nun aber war er nicht mehr mit Klampfe und Mundharmonika zugange, sondern mit den Kumpels von der Paul Butterfield Blues Band.

Man hatte kurz zuvor ein bisschen geprobt. Für mehr als drei Stücke hatte es nicht gereicht, dafür für jede Menge Speed und verwandte Stoffe. Barry und Michael hatten schon ausgiebig gekotzt. „Play Fuckin’ Loud!“ hiess nun die Devise. Hinter der Bühne schimpfte Pete Seeger herum, man müsse die brutalen Nichtskönner vom Mischpult verjagen. Nach „Maggie’s Farm“, „Like a Rolling Stone“ und „It Takes a Lot to Laugh“ war der Spuk vorüber. Der Sänger kam noch für zwei Solo- Zugaben zurück. Das Publikum aber hatte gerade einem Ereignis beigewohnt, das es später als Wendemarke der Rockgeschichte deuten sollte.

Zunächst erzählte jeder die Geschichte anders. Sie hatten gebuht, weil der Sound so miserabel gewesen sei, sagten die einen. Mit dem zugedröhnten Haufen sei einfach nichts anzufangen gewesen, meinten die andern. Wieder andere fühlten sich düpiert, weil der Star des Festivals sie mit diesem schrägen Kurzauftritt abgespeist hatte. Und dann gab es auch einige, die meinten, der Barde habe seine Anhängerschaft, die rotgrüne Folkbewegung, verraten, um sich den Pop-Kids anzudienen. Erst allmählich fand das Stimmengewirr zum Cantus firmus zusammen: Bob Dylan habe in Newport unvermittelt zur elektrischen Gitarre gegriffen, den Folkrock erfunden und ihn gegen 15 000 buhende Zuschauer durchgesetzt.

Geschichte ist, was sich als beste Geschichte durchsetzt. Was wirkt, wird Wirklichkeit.

Nancy Sinatra, These Boots Are Made for Walkin’, 1965

Text/Musik/ Lee Hazlewood

Produzent/ Lee Hazlewood

Label/ Reprise

Nancy Sinatras „These Boots Are Made for Walkin’“ nahm international die ersten Plätze ein. Eigentlich hatte Lee Hazlewood den Song für sich selbst geschrieben, aber Nancy bestand einfach darauf ihn zu singen. Woraufhin Lee ihr riet, das Ding dann auch nicht mit gewohnt hoher Kopfstimme, sondern eher aus Brust und Bauch heraus zu singen. So bekam das Lied, ursprünglich ein Country-Macho, einen feministischen, ja dezent sadistischen Unterton, und Nancys Image, einst ganz Daddy’s Little Girl, wurde, sowohl auf Platten wie im Film, durch eine fordernde Hooker- bzw. Bikerin-Dimension, zum reizvoll ambivalenten Wackelbild erweitert.

Abertausende haben sich bis heute die Zähne daran ausgebissen, ein Cover dieses Meilensteins aufzulegen – es geht nicht. Nancy Sinatras Erfolgsgeschichte bestand neben Lee Hazlewoods raffinierter Produktions-Regie, nicht zuletzt auch in den zwischen Surf und Country pendelnden, leicht hörbaren, aber durchaus funky Arrangements des 12-String-Gitarristen Billy Strange. 1966 erschien dann auch Nancys erstes Album, selbstredend „Boots“ betitelt, die Künstlerin posiert in roten solchen auf dem Cover.