Pere Ubu, The Modern Dance, 1978

Produzent/ Pere Ubu, Ken Hamann

Label/ Blank

„The Modern Dance» beginnt mit einem unangenehmen Pfeifen, in das sich ein nachlässiges, Spannung erzeugendes Gitarrenlick einmischt – bis ein scharfes Gitarrenriff die Sirene wegbläst und David Thomas zu einem verzweifelten Abgesang auf die Liebe ansetzt. „Nonalignment Pact“ ist der perfekte Einstieg in ein perfektes Debüt, das auch heute noch modern ist. Nach einer Handvoll EPs legten Pere Ubu 1978 mit „The Modern Dance“ ein Album vor, das seine Wut, Energie und seinen Humor dem Punk verdankte, aber viel weiter vorwärtsdrängte und ausschwärmte, als es Punk damals erlaubte.

Pere Ubu aus Cleveland, Ohio schufen auf „The Modern Dance“ den Soundtrack für ihre Geisterstadt: Sie verbannten die Pop-Klischees der Seventies in die heimeligen Vororte und verschweissten schroffe Gitarrenriffs, zerbrochene Rhythmen, unkontrolliert lärmende Synthesizer und David Thomas‘ abartige Stimmkünste zu ruppigen Prä- und Post-Punksongs und abstrakten Industrie-Klangskulpturen. Pere Ubu waren keine intellektuellen Avantgardisten, sondern eine intuitive „Avantgarage“-Band, eine Folk-, keine Kunstcombo; sie waren lieber Erneuerer als Ikonoklasten, und statt das Populäre zu verdrängen, jonglierten sie mit dessen Versatzstücken. Von Pere Ubu gespielt, mutierten die wohltemperierten Pop-Harmonien indes zu unberechenbaren Achterbahnfahrten durch Bilder urbaner Entfremdung und industrieller Verelendung. Aus den Abgründen jedoch schallte immer wieder anarchisches Gelächter: Mehr als das Entsetzen umkreisten Pere Ubu halluziniert die schwarzen Löcher des Absurden, und der Alptraum kippte in ein existenzielles Grand Guignol, das die Kinder das Lachen und die Erwachsenen das Fürchten lehrte – genau wie Alfred Jarrys Puppengroteske „Ubu Roi“ von 1896.

David Thomas, der Sänger und Gründungsmitglied von Pere Ubu starb am 23. April 2025 im Alter von 71 Jahren. Er war einer der interessantesten und kompromisslosesten Musiker seiner Generation.

Ian Hunter & Mick Ronson, Live At Rockpalast 1980, 2011

Produzent/ WDR

Label/ MIG

Mick Ronson aus dem nordenglischen Hull war nicht nur irgendein Lead-Gitarrist, er war der Archetyp eines Lead-Gitarristen. Spindeldürr mit langem blondem Haar. Seine Soli spielte er selbstverständlich breitbeinig und natürlich auf einer tief hängenden Les Paul. Was dabei rauskam, waren kurze, instrumentale Ohrwürmer.

„Schweinerock“ würden einige Ignoranten heutzutage wahrscheinlich motzen, aber Ronson nudelte nicht einfach irgendwelche Klischees runter. Er hat Zeug erfunden, das in den Händen von Millionen minderbegabter Nachahmer zum Klischee wurde. Nicht nur David Bowie und Ian Hunter, sondern auch Lou Reed, Roger McGuinn, John Cougar, Kinky Friedman, Bob Dylan und T-Bone Burnett wussten Ronson zu schätzen. Er war auch als Arrangeur und Produzent nicht übel. Reeds „Transformer“ und Bowies „Ziggiy Stardust“ gehen zum Teil auf seine Kappe. Auf YouTube ist ein gut aufgenommener Auftritt von Ronson zu finden, mit Hunter im „Rockpalast“ aus dem Jahre 1980. Unbedingt mal ansehen bzw. anhören „Take it away, Mick…“

 

Eric Andersen, Ghosts Upon the Road, 1989

Produzent/ Steve Addabbo

Label/ Gold Castle Records

Wer seinerzeit der anglo-amerikanischen Folkmusik in der Ära vor CD und mp3 auf der Spur gewesen ist, der könnte Eric Andersen begegnet sein. Zum Beispiel mit „Violets of Dawn“ oder „Thirsty Boots“, dem Archetyp eines Songs von der Guthrie-Ochs und Paxton-Sorte. Die lange Geschichte vom Green-Village-Folk-Zirkel der 60er bis zu „Ghosts Upon The Road“ lässt sich auf dem Wikipedia-Artikel über Anderson nachlesen. Wem selbst für dieses Konzentrat die Zeit zu knapp ist, der möge sich halt den Titelsong anhören; der ist nämlich das musikalische und poetische Fazit der Angelegenheit vom Sänger selbst; dauert allerdings auch elf Minuten. Soviel Zeit hat heutzutage beklagenswerterweise kaum noch jemand, um sich mit derselben Sache zu befassen. Lohnen würde sich das. Gelang es doch selten genug einem Folk-Helden der 60er, sich mit Abstand drei Jahrzehnte später noch Gehör zu verschaffen.

„Ghosts Upon the Road“ ist eine bewegende Weitermach-Geschichte und einer der spärlichen Momente, wo moderne Produktionstechnik künstlerischer Authentizität kaum ein Haar zu krümmen vermag.

The Nits, In The Dutch Mountains, 1987

Produzent/ The Nits

Label/ Columbia

Das erste Mal hörte ich den Song im Herbst 1987 in der Musiksendung „Sounds“ im Schweizer Radio. Es war eines von vielen neuen Stücken, die an diesem Abend vorstellt wurden. Ein munteres Stück, mit einem Drum-Pattern, das an den Gang eines Kamels erinnert, fast schon tanzbar, melodiös und eminent mitsingbar. Irgendwas von einem Müller auf dem Rücken einer Kuh, glaubte ich zu verstehen, dann der Refrain, der von holländischen Bergen handelte. Diese gibt es, wie man weiss, nur in der Phantasie.

Im nächsten Frühjahr kaufte ich mir das Album „In The Dutch Mountains“, das auch gleich mit diesem Song begann. Eine Live-Aufnahme auf zwei Spuren, so wollte das die Band. Das Lied, das ich vor ein paar Monaten zum ersten Mal im Radio gehört hatte, war nun unwiderstehlich zum Hit geworden. Da passte alles: der Groove, die an John Lennon erinnernde Stimme von Henk Hofstede, die melancholisch aber auch mächtig sein konnte, das „Mountain“-Sample, die Melodie.

„In The Dutch Mountains“ bestand für sich allein, war aber auch der programmatische Opener für ein Album voller Kindheitserinnerungen und -phantasien aus dem Osten Amsterdams, wo die „Schiffe auf den Kanälen höher sind als die Häuser“. Die holländischen Berge, das musste diese Fläche sein, die sich ausserhalb der Grenzen der Niederlande auf der grossen Karte im Geographie-Unterricht auftaten. So stellte sich das der kleine Henk vor, das sang Henk Hofstede 1987 in einem zeitlosen Song.

Fine Young Cannibals, The Raw & The Cooked, 1989

Produzent/ Fine Young Cannibals, Jerry Harrison

Label/ I. R. S. London

Lots Of Music in die Air bei diesem Ding, Gavyn Wrights vertrauenswertes Saxophon, die emsige Trompete, Jools Hollands pochendes Piano auf „Good Thing“, warme Background-Stimmen flackern hier und da auf und setzen der eigenartigen aufgedreht-euphorischen Grundstimmung noch letzte Kicks hinzu. Bei aller Fähigkeit zu distanziertem Gebahren steckt in jeder Ecke hektische Begeisterung, gerade so, als hätte man nur sehr wenig Zeit sein perfektes Soulstück der Welt vorzuführen.

Roland Gift ist alles mögliche, unter anderem dringlich, manchmal hart bis zur Grenze des Erträglichen, manchmal rührend, manchmal fast sachlich, nur ein Otis Redding ist er nicht. In ruhigeren Momenten ist seine Stimme angenehm rauh, oft hat sie aber dieses gequetschte Näseln, nur eben Otis Redding sollte man es nicht nennen. Fine Young Cannibals waren einzigartig, tanzbar und mit einer der aussergewöhnlichsten Stimmen in der Musikszene der späten 80er Jahre. Wie bei „ She Drives Me Crazy“ schlummert hier in jedem Stück des Auf-Dauer-Nervös-Machenden – deswegen mag ich das Album.

XTC, Drums And Wires, 1979

Produzent/ Steve Lillywhite

Label/ Virgin

Die Cover von XTC-Alben sind hervorragend gestylt, im krassen Widerspruch dazu steht das Aussehen der Band: ungewaschene Oberschüler mit romantischen Neigungen zum Proletariat? Drogensüchtige Mitglieder einer englischen R&B-Band der mittleren 60er? Auf der Bühne sind sie völlig überdreht, immer eine Spur zu schnell („He has the rythm in his head“). Aber vorallem fehlte ihnen ein charismatischer Leadsinger, eine Identifikationsfigur für die orientierungslose Jugend. Bands machen sich nur einen Namen, wenn sie optisch ein Image haben. Eben. Aber XTC haben tatsächlich ein paar gute Alben gemacht. Sie haben intelligente Texte und atemberaubende Kompositionen, so ist z.B.  „Making Plans For Nigel“ eine geniale Nummer über dominante Eltern mit herrlich verdrehten Drumpattern und einem guten New-Wave-Gitarrenriff.

„Drums And Wires“ war so etwas wie eine Antwort auf Joe Jackson, Police, Squezze etc. Dass XTC nie wirklich eine New-Wave-Band waren, tut nichts zu Sache. XTC-Songs sind Pop-Songs, sie haben aber dieses Unbekannte in der Formel. Morbidität, Alkohol, sozialistischer Realismus und Werbegrafik. Eine einmalige Mischung. Jenseits von Musikalität und Cleverness gibt es ein Moment im Bewusstsein dieser Gruppe, das neu ist.

Laurie Anderson, Mister Heartbreak, 1984

Produzent/ Laurie Anderson, Bill Laswell, Peter Gabriel

Label/ Warner Bros.

Laurie Anderson ist und bleibt ein unvergleichliches Phänomen. Einfach unmöglich, die Empfindungen in Worte zu fassen, die einen überkommen, wenn man mit gespannter Aufmerksamkeit ihre intelligent dargebrachten, poetischen Reflexionen verfolgt. So erging es mir jedenfalls vor vielen, vielen Jahren als mich Laurie Anderson mit „Mister Heartbreak“ zu begeistern vermochte.

Das Album entführt uns quer um den Erdball in vielerlei exotische, paradisisch anmutende Schauplätze. Statt verschlüsselter (Wittgenstein)-Philosophie wie auf „ Big Science“ gibt es seltsame Fairy-Tales und gelegentlich Shakespeare- und Herman Melville-Zitate. Und alles wird plastisch vor Augen geführt. Eine effektvolle, ungeheuer farbenreiche Instrumentierung komplettiert die magische, märchenhafte Gesamtatmosphäre, in der Laurie Anderson mit ihrem faszinierenden Sprechgesang sich als Kommentatorin ihrer eigenen bizarren Phantasie erweist.

Die aufwendige Produktion von „Mister Heartbreak“ entstand in Zusammenarbeit mit Bill Laswell, darunter das vielschichtige „Sharkey’s Day“ zu Beginn. „Excellent Birds“, ein kurzer eingängiger Song wurde mit Peter Gabriel geschrieben, der sich darauf den Gesang mit Laurie teilt. Andere Mitwirkende sind Adrian Belew, Anton Fier, Dolette McDonale, Daniel Ponce, Nile Rodgers und Phoebe Snow – das letzte Stück „Sharkey’s Night“ wird von William Burroughs rezitiert.

Lou Reed, New York, 1988

Produzent/ Lou Reed, Fred Maher

Label/ Sire

Lou Reed setzt sich das James-Joyce-Brillengestell auf die Nase und wünscht seinen Hörern den gleichen intellektuellen Spass beim Hören seiner Musik und seiner Texte, den er bei der Lektüre von „Finnegans Wake“ empfindet. Jeder andere müsste sich bourgeoises Grossmaul schimpfen lassen. Er nennt sein Album „New York“, und bittet darum dieses doch in einem Durchlauf zu hören, „wie man einen grossen Roman liest“. Bei jedem anderen käme der Verdacht auf, er wolle den Status der Metropole als altbackenen Werbegag missbrauchen. Doch Lou Reed geht hier mit der gleichen Ernsthaftigkeit zur Sache, mit der er zuvor bisexuell, drogenabhängig, cholerisch, ausschweifend, depressiv war. Diese Haltung hat ihm über die Jahre hinweg zu mehr Einfluss auf die Rockszene verholfen als viel anderen Berühmtheiten. So ist auch nicht verwunderlich, dass der vierzehnteilige Songzyklus „New York“ gleich nach seinem Erscheinen sofort als klassisch, als vollendet, als Rockmusik in bisher noch nie dargewesener Synthese von Text, Musik und Präsentation angesehen wurde.

Musikalisch werden zwei Gitarren, Bass und Schlagzeig sowie Lou Reeds unverwechselbarem Bariton mit Rock, Bluegrass, Jazz und Blues zusammengeführt, ohne dass daraus eine dieser Bindestrich-Stilrichtungen wird. Die Texte sind perfekt in die Musik eingearbeitet. Grundtendenz ist eine ethisch motivierte Aggression verbunden mit klarer, empfindsamer Poesie, die die an mancher Stelle aufgestellte Behauptung widerlegt, „New York“ sei ein naturalistisches Werk. „You can’t depend on the goodly hearted: The goodly hearted made lampshades and soap.“ Die da nur das Beste wollten, machten aus der Haut ihrer Opfer Lampenschirme und aus ihren Knochen Seife. Das ist kein Naturalismus, das ist Wahrheit. Auch wenn es sich bei dem Album nicht um den grossen musikalischen „New York“-Roman handelt, so ist bei aller Selbstüberschätzung zumindest festzuhalten, dass die Platte sicherlich die besten Texte enthält, die Lou Reed je verfasst hat. Beeindruckend die Intensität von „Dime Store Mystery“, Lou Reeds Abschied von seinem Freund Andy Warhol, und die brachiale Schönheit von „There is no Time“.

Iris DeMent, The Way I Should, 1996

Produzent/ Randy Scruggs

Label/ Warner Bros.

Eine der grö­ss­ten Stim­men über­haupt, wie ich finde. Man muss al­ler­dings schon eine ge­wis­se US-Folk- und Coun­try-Af­fi­ni­tät haben, denn diese Stimm­bän­der haben einen leicht her­ben Charme, auch ihr zit­tern­des Vi­bra­to ist eher alte Schu­le. Dafür hat Iris De­Ment eine un­glaub­lich tief ge­hen­de Aus­drucks­fä­hig­keit. Ihre ers­ten bei­den Coun­try-Alben „Infamous Angel“ (1992) und „My Life“ (1993) wurden von Hörern und Kritikern gleichermassen bejubelt, obgleich ihre Musik so gut wie gar nicht im Radio gespielt wurde.

Das dritte Album „The Way I Should“ ist etwas kommerzieller konzipiert und unterscheidet sich von den Songinhalten her von den vorherigen Alben. Dort hatte sie sehr persönlich geschrieben, eher introvertiert. „The Way I Should“ hingegen greift mit einer Band ( Stuart Smith, Randy Scruggs und Mark Knopfler an den Gitarren, Chuck Leavell an der Orgel, Tammy Rogers an der Violine und Harry Stinson an den Drums) leichte Rock-Elemente auf und Iris DeMent äussert sich in ihren Songs ungewöhnlich deutlich. Sexueller Missbrauch, Religion, Vietnam, die desaströse US-Sozial- und -Umweltbilanz in der Politik der demokratischen Clinton Jahre. Es könnte aber auch definitiv eine Aufnahme aus den Trump-Jahren sein, da bin ich mir sicher. Der politische Grundton von Iris DeMent ist zwar in einem positiven Sinn kritisch rechtskonservativ, doch man sollte sich hüten das alles mit europäischen Augen zu betrachten – und zu bewerten, die USA sind da wohl unter phänomenologischen Gesichtspunkten völlig anders zu sehen. In jedem Fall macht Iris DeMent klar, wo sie hingehört, ihr Zuhause ist die kleine, etwas runtergekommene ländliche Welt der Mais-Felder Iowas, die Familie – eben das Leben, das sie zwischen ihren eher raren Aufnahmen lebt und samt ihrer US-Weltsicht hin und wieder in erstklassige Musik verwandelt.

Townes Van Zandt, Our Mother the Mountain, 1969

Produzent/ Kevin Eggers, Jim Malloy, Jack Clement

Label/ Poppy

Geboren wurde Townes Van Zandt am 7. März 1944 in Texas als Sohn einer wohlhabenden Erdölfamilie. Er lebte in Fort Worth, bis er acht war. Mit neun war er in Midland; in Montana war er dann bis zu seinem zwölften Lebensjahr. Mit 14 verliess die Familie Minnesota, um zurück nach Colorado zu ziehen. Mit 19 verschlug es ihn nach Houston. Und mit 21 ging er endgültig von zu Hause fort, um unterwegs zu sein.

Zu dieser Zeit, als sich Townes Van Zandt entschloss, ganz zum Rambler zum Herumtreiber zu werden, hatte er schon ein paar kleine Auftritte hinter sich. Er hatte jahrelang keine Adresse, nur einen Koffer und eine Gitarre. Dafür hatte Van Zandt Zeit, um sein Gitarrenspiel zu verbessern. Er lebte fünf Jahre in einer Blockhütte in den Bergen, ohne Strom, ohne regelmässige Kontakte zur Zivilisation. Dieser Drang zur Einsamkeit, das Unterwegs-Sein anderseits, die konstante Verletzung aller Regeln des Musikgeschäfts, depressive Phasen und die Leiden einer Trunksucht tragen dazu bei, dass Van Zandts Lieder so einzigartig sind. Zwischen Folk und Country pendelnd, bekommen die Songs ihren ganz spezifischen Drall: Immer einfach die Melodie, immer die Handlung der Lieder transzendierend, abstrakt genug, um allgemeingültige Geschichten zu erzählen von meist tiefschwarzer Nacht. Wer heute das Album „Our Mother the Mountain“ aus dem Jahr 1969 hört, wird schwören, dass die Lieder gestern erst aufgenommen wurden – und seiner Zeit noch weit voraus sind.