Rory Gallagher, A Million Miles Away, 1973

Text/Musik/ Rory Gallagher

Produzent/ Rory Gallagher

Label/ RCA


Schon mit sechs Jahren suchte Rory Gallagher im Radio nach Bluessongs. Als Neunjähriger kaufte er sich seine erste Gitarre, die Lehrjahre absolvierte er in der Fontana Showband, einer Tanzkapelle, mit der er Songs aus der englischen Hitparade nachspielte. Mit 16 begann er, mit seinem Trio Taste Rock und Blues zusammenzubringen. Rory Gallagher galt nicht nur als exzellenter Gitarrist, sondern wurde auch als Rockstar gefeiert – das hatte es in Irland noch nicht gegeben. 1970 kam auch der Erfolg in England: Gallagher hatte mit seiner Band ein zweites Album aufgenommen, auf dem er sich, angeregt durch Ornette Coleman, auch auf dem Saxophon versuchte. „On The Boards“ schaffte es bis in die englischen Charts. Doch nach einem Auftritt beim Festival auf der Insel Wight löste Gallagher seine Band auf.

Als Solokünstler blieb er nicht nur seinen musikalischen Vorlieben treu, sondern machte auch in derselben Bandkonstellation weiter: Gitarre, Bass, Schlagzeug. In den Siebziger nahm Rory Gallagher unermüdlich Platte um Platte auf. Zu den besseren gehört „Tattoo“. Da gibt es ein bisschen Blues, ein bisschen Country, saftigen Rock und mit „A Million Miles Away“ auch einen berührenden Song über das Gefühl der Isolation, während man von Menschen umgeben ist.

In der Rockszene war Rory Gallagher bekannt dafür, jeden unter den Tisch trinken zu können – der Alkohol war dann in den Neunzigern auch für seinen Abstieg verantwortlich und für seinen Tod. Rory Gallagher starb am 14. Juni 1995 in Alter von 47 Jahren.

The Yardbirds, Over Under Sideways Down, 1966

Text/Musik/ Jeff Beck, Keith Relf u.a.

Produzent/ Simon Napier-Bell

Label/ Epic

1966 waren die Yardbirds eine der hipsten britischen Bands: Ihre Bluesjahre hatten sie hinter sich gelassen, ihr früherer Gitarrist Eric Clapton spielte nun bei John Mayalls Bluesbreakers. Claptons Nachfolger Jeff Beck lebte seine Experimentierfreude aus: Verzerrung, Rückkoppleungen, Halleffekte. Im Frühjahr 1966 kam Jimmy Page in die Band, erst E-Bass, dann E-Gitarre. So wurden die Yardbirds zu einer Gruppe mit zwei Leadgitarristen und entwickelten ein neues, einflussreiches Bandformat.

„Over Under Sideways Down“ ist ein typischer Song über die Ruhelosigkeit in „Swinging London“: schnelle Autos, bereitwillige Mädchen, coole Drinks. Das Paradies der moralfreien Hedonisten – „it’s all for free“, alles gratis. Mit schneidenden Gitarrenlicks und extrem präsentem Schlagzeug drängt der Song nach vorn, verstärkt durch Keith Relfs schrille Mundharmonika-Phrasen. „“Over Under Sideways“ wirkt wie eine amphetamingetriebene Geisterfahrt durch eine Nacht der Gefühlsverwirrung. Und die schien sich auch innerhalb der Band ausgebreitet zu haben. Zu gross waren die Qualitätsschwankungen, zu gross der Abstand zwischen ihren Hitsingles. Im Herbst 1966 verliess Jeff Beck die Band und wenig später gingen auch Keith Relf und Jim McCarty. 1968 baute Jimmy Page die Band unter dem Namen The New Yardbirds neu auf und änderte später den Namen in Led Zeppelin.

Booker T. & the M.G.’s, Green Onions, 1962

Musik/ Booker T. Jones, Steve Crooper u.a.

Produzent/ Jim Stewart, Booker T. Jones, u.a.

Label/ Stax

Eigentlich sollten Booker T. und seine Gruppe an diesem Nachmittag im Juni 1962 den Rockabillysänger Billy Lee Riley im Stax Studio im Memphis begleiten, doch der tauchte nicht auf. Als jammten sie ein wenig herum, spielten einen improvisierten Blues. Stax-Chef Jim Stewart sass derweil im Kontrollraum und schnitt spasseshalber mit. Am Abend präsentierte er den Musikern die nach seinem Geschmack beste Version des Blues und fragte Booker T.: „Wenn ich das herausbringen wollte, wie würdet ihr es nennen?“. Nach kurzem Zögern antwortete Booker T.: „Green Onions – denn grüne Zwiebeln sind das Ekligste, was mir gerade einfällt. Etwas, das man wegwirft, so wie du das mit dieser Aufnahme machen solltest.

Doch Stewart warf nichts weg. Und damit dürfte er alles richtig gemacht haben, denn die Platte verkaufte sich rund eine Million Mal und erreichte Platz drei der Singlecharts. Booker T. Jones war zu diesem Zeitpunkt gerade mal 17 Jahre alt und Leader der Hausband bei Stax mit dem Namen M.G.’s, kurz für The Memphis Group. Die Gruppe ist auf den meisten entscheidenden Stax-Platten zu hören, also bei Aufnahmen von Otis Redding, Eddie Floyd, Rufus Thomas, Carla Thomas und vielen anderen.

Bobbie Gentry, Ode To Billie Joe, 1967

Text/Musik/ Bobbie Gentry

Produzent/ Kelly Gordon

Label/ Capitol Records

Es ist einer dieser schläfrigen, dunstigen Tage im Mississippidelta. Am 3. Juni springt Billie Joe McAllister von der Tallahatchie-Brücke in den Tod. Das erzählt Bobbie Gentry in einem der grössten Hits des Jahres 1967: „Ode to Billie Joe“ – mit jener heiseren Blue-Eyed-Soul-Stimme, die zu ihrem Markenzeichen werden sollte.

Bis heute bleibt ein Geheimnis um Billie Joe ungeklärt: Kurz vor seinem Sprung sei er mit einer jungen Frau auf der Brücke gesehen worden, sie hätten einen Gegenstand in den Fluss geworfen – aber was für einen? Einen Strauss Blumen? Einen Verlobungsring? Einen Einberufungsbefehl? LSD-Trips? Oder war es ein abgetriebener Fötus? Keine Frage wird Bobbie Gentry häufiger gestellt. Sie hat sie nie beantwortet.

„Ode To Billie Joe“ geht im August 1967 an die Spitze der US-Charts und bleibt dort vier Wochen. Das schaffen 1967 nicht viele Songs, die um Selbstmord und Abtreibung kreisen, 2024 übrigens auch nicht. Knapp drei Jahre später, 1970, landet Bobbie Gentry ihren letzten Hit, „Fancy“, die Geschichte eines 17-jährigen Mädchens, das von seiner verzweifelten, vom Vater verlassenen Mutter, mit dem Rat „be nice to gentlemen“ und einem fancy dress ausgestattet in die Stadt geschickt wird, um Geld zu verdienen. Auch kein gängiges Pop-Thema, nicht 1970, nicht 2024.

Ihre letztes Album nimmt Bobbie Gentry 1970 auf, wo sie heute ist, das fragen sich viele, auch Kolleginnen, die sie bewundern, von Beth Orton bis Jill Sobule. Letztes Wort von Bobbie Gentry: „Fancy“ is my strongest statement for women’s lib, if you really listen to it. I agree wholeheartedly with that movement and all the serious issues that they stand for – equality, equal pay, day care centers, and abortion rights.“

Elvis Costello, This Year’s Model, 1978

Produzent/ Nick Lowe

Label/ Radar Records

All thriller, no filler. Elvis Costello sieht auf dem Cover genau so aus, wie er singt. Der dünne Mann mit Hornbrille und Krawatte hinter einer Hasselbladkamera schaut unglaublich hässig drein. „This Year’s Girl“ ist ein Hassliebeslied an Costellos damalige Geliebte, Bebe Buell, die ihre Karriere als Fotomodell in New York begann und sich später als Schauspielerin, Sängerin und Autorin durchsetzte. Genau genommen handelt das ganze Album von dem Zuviel der Gefühle und dem Zuwenig, von Begehren und Einsamkeit, Leidenschaft und Ekel.

Elvis Costello war damals dauernd wütend. Der Mann lag im Streit mit allen, nicht nur mit sich selber. Sein Blick war ausdruckslos und kalt. Über liederliche Veranstalter und Journalisten führte er ein Schwarzbuch. Nach seinem ersten Gastspiel im amerikanischen Fernsehen gab ihm der Sender ein vierjähriges Auftrittsverbot. An den Konzerten bellte er sein Publikum an, verliess die Bühne grusslos und ohne Zugabe, beschimpfte andere Musiker als Ignoranten, war oft betrunken. Seine Auftritte waren kurz und laut, seine Band spielte präzis und voller Energie, er drosch mit schweissnassem Gesicht auf seine Gitarre ein und schrie wie ein Verrückter: „I’m not angry! I’m not angry!“

The Who, I Can’t Explain, 1965

Text/Musik/ Pete Townshend

Produzent/ Shel Talmy

Label/ Brunswick

„I Can’t Explain“ aus dem Jahre 1965 ist eine Hymne halbstarker Verwirrung in zwei Minuten und drei Sekunden. Nach dem dreiteiligen Kaskadenriff auf der E-Gitarre, in das Bass und Schlagzeug einfallen, definiert Sänger Roger Daltrey in vier Zeilen das Thema, das von den Backing Vocals mit dem Songtitel wie eine Schlagzeile kommentiert wird: „Got a feeling inside (Can’t explain)/ It’s a certain kind (Can’t explain)/ I feel hot and cold (Can’t explain)/ Yeah, down in my soul, yeah (Can’t explain)“.

Der Sänger ist kaum zu verstehen, er redet wie unter Valium, im Kontrast zur amphetaminen Begleitung seiner Kollegen. Die Mixtur entspricht dem Tablettencocktail von Uppers and Downers, mit dem die britischen Mods sich die Nacht zum Tag machten und umgekehrt. Das Unerklärliche wird unverständlich, anders gesagt: Das Erzählte bildet sich im Gesungenen ab, oder nochmals anders, in der Paraphrasierung Ludwig Wittgensteins: Wovon der Sänger nicht reden kann, darauf weist die Musik hin.

Die Aussage des Songs „I Can’t Explain“ bleibt also für sich gesehen ambivalent. Der Erzähler weiss nicht, was ihm geschieht oder er will nicht sagen, was mit ihm geschehen ist. Statt einer Antwort kommt dieses hektische Gitarrensolo in der Art des frühen Bo Diddley. Worauf der Sänger zurückkommt: I said I can’t explain, yeah/ You drive me out of my mind/ Yeah, I’m the worrying kind/ babe/ I said I can’t explain“.

Bob Dylan, Visions Of Johanna, 1966

Text/Musik/ Bob Dylan

Produzent/ Bob Johnston

Label/ Columbia

Manche Texte versteht man besser, wenn man nicht genau hinschaut. Mir jedenfalls kommt „Visions Of Johanna“ vor wie ein psychedelischer Trip. Der Schauplatz wechselt ständig, man weiss nie, was der Text eigentlich sagen möchte. Zuerst sind wir in einem Raum mit hustenden Heizungsrohren, dann in einem Museum, dann vielleicht in einem Bild. Der verlorene Junge murmelt gegen eine Wand, anstatt mit dem Erzähler zu sprechen. Countrymusik dudelt vor sich hin, die Madonna zeigt sich nicht. Alles ist sinnlos, unzusammenhängend. Wie in einem explodierenden Bewusstsein, das die Wirklichkeit nicht mehr fassen, nicht mehr ordnen kann.

Was am Ende bleibt sind die Visionen von der mysteriösen Johanna. Dylan stellt sie der anderen Frauenfigur gegenüber: „Louise, she’s all right, she’s just near/ She’s delicate and seems like the mirror/ But she just makes it all too concise and too clear/ That Johanna’s not here.“ Louise scheint also sexuell verfügbar, sie ist körperlich anwesend, Johanna hingegen ist abwesend, sie ist die einzige, die ausserhalb der beschriebenen desillusionierenden Realität steht. Sie dient dem Erzähler als Ideal, womöglich als Inbegriff erfüllter Liebe und Sinnhaftigkeit, auf jeden Fall steht sie für ein vermeintliches Entkommen aus der als grausam empfundenen Wirklichkeit. Zugleich verfolgen, ja quälen den Erzähler seine Visionen, weil sie eben bis zum Ende das bleiben, was sie sind: Visionen.

Die Originalaufnahme von „Visions Of Johanna“ ist auf dem legendären 1966er Album „Blonde On Blonde“ zu finden. Die Live-Aufnahme von „Visions Of Johanna“ aus dem Album „The Cutting Edge 1965-1966: The Bootleg Series Vol. 12“ bekam zu recht ein eigenes Musikvideo. Es ist eines dieser Videos, die eine ungemeine Faszination ausüben. Dieses schöne und bildgewaltige Werk in Kombination mit Dylans surrealistischer Songpoesie ist eine tolle Arbeit.

XTC, Dear God, 1986

Text/ Musik/ Andy Partridge

Produzent/ Todd Rundgren

Label/ Virgin Records

In dem Song „Dear God“ schreibt jemand einen Brief an den lieben Gott, nur um ihm mitzuteilen: „I don’t believe in you“. In dem Paradox, jemanden persönlich zu adressieren, von dem man annimmt, dass es ihn gar nicht gibt, spiegelt sich ein anderes häufig formuliertes Paradox wider: die scheinbare Unvereinbarkeit der Existenz Gottes mit all den schlimmen Dingen, die auf der Welt geschehen. Wenn es einen Gott gibt, so der bekannte grundsätzliche Gedankengang, wie kann er all die Kriege, Verbrechen, Grausamkeiten, Unglücke und Naturkatastrophen zulassen, durch die seit ewigen Zeiten unzählige Menschen schuldlos sterben und leiden?

Die erste Strophe wie auch der Schluss des Songs werden von einem Kind gesungen. Erst mit der zweiten Strophe setzt XTC-Sänger Andy Partridge ein. Mit dem Einsatz der Erwachsenenstimme wird auch der Ton des Briefes schärfer: „Lieber Gott, sorry wenn ich störe, aber wenn ich all die Menschen sehe, die sich wegen Dir bekriegen, dann kann ich nicht an Dich glauben. Auf einen Zwischenteil mit erneut in Richtung Paradox zielenden Fragen wie „Hast Du die Menschheit geschaffen, nachdem wir Dich geschaffen haben?“ („Did you make mankind after we made you?“) folgt eine weitere Strophe, in der es um die Bibel geht. Gott sei darin recht häufig erwähnt, er solle sich das Buch mal genauer anschauen. Geschrieben worden sei es von uns verrückten Menschen, die Gott nach seinem Ebenbild geschaffen habe und die tatsächlich glaubten, der „ganze Mist“ („that junk“) sei wahr.

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John Coltrane, A Love Supreme, 1964

Produzent/ Bob Thiele

Label/ Impulse Records

Ob es Gott gib, weiss ja keiner so genau. Auf jeden Fall aber gibt es diesen Gong und gleich darauf diese Fanfare, Altes Testament und Neues Testament – und so beginnt dieses Album, das John Coltrane angeblich in fünf Tagen geschrieben hat.

Nach dem Präludium führt der Bass das Leitmotiv ein. Wer das Album zum zweiten Mal hört, hört ihn brummeln: „A-Love-Sup-reme. A-Love-Sup-reme.“ Und das Schlagzeug lässt die Lobpreisung schwingen. Man merkt: Das hier ist etwas anderes als die Coolness eines Miles Davis oder die Virtuosität eines Charlie Parker. Ernster, pathetischer. Es ist als nehmen wir teil an einem Gottesdienst, aber an einem, der uns überrascht und glücklich macht. Eine Art überirdischer Liebesdienst.

Man muss diese halbe Stunde am Stück hören, sonst ist es sinnlos. Und bitte nicht im Auto, beim Putzen, Essen, oder als Untermalung beim Candlelight Dinner. Hören Sie das Album nach einem anstrengenden Arbeitstag gemütlich im Sessel, oder Nachts auf dem Balkon mit der letzten Flasche Bier, schauen Sie in den Sternenhimmel, konzentrieren Sie sich auf die Musik.

Coltrane ist ein Prediger, der durchs Saxophon zu uns spricht. Ein manischer Prediger, bis in die äusserste Faser inspiriert. Das Saxophonspiel, in das ein Geist hineinzufahren scheint und das sich dann in immer höhere Höhen schraubt – von hier stammt es, hier passt es hin. Auch dabei: McCoy Tyner, der das Piano spielt wie ein kunstsinniger Jesuit, also der Mission verpflichtet, aber nie komplett dogmatisch; Drummer Elvin Jones als wirbliger, dabei stets untertäniger Messdiener; Bassist Jimmy Garrison als Diakon des Grooves, der uns tanzen lässt.

Irgendwann raunt John Coltrane ins Mikrofon: „A-Love-Sup-reme. A-Love-Sup-reme.“ Wir haben verstanden, irgendwie.