The Rolling Stones, Can’t You Hear Me Knocking, 1971

Text/Musik/ Jagger-Richards

Produzent/ Jimmy Miller

Label/ Rolling Stones

Auf „Sticky Fingers“ gibt es zwei markante Saxophon-Soli von Bobby Keys. Das berühmteste in „Brown Sugar“ und das zufällig enstandene in „Can’t You Hear Me Knocking“. Bobby Keys aus Slaton, Texas hatte Ende der 1950er angefangen Saxophon zu spielen und war kurzzeitig sogar in Buddy Hollys Band. Als er 1969 mit den Stones ins Studio ging war schon ein gefragter Begleitmusiker. Den ersten Song „Live With Me“ nahm Bobby wörtlich: Er lebte mit Keith Richards in Südfrankreich, spielte auf „Exile On Main Street“ und war 1972 auf der Stones-Tour dabei. Auf der Europa-Tour 1973 verpasste er einen Gig, da war es mit den Stones erst mal vorbei.

Doch Bobby Keys spielte weiter: Mit Joe Cocker, B.B. King, Eric Clapton, John Lennon und George Harrison, für Charly Simon, Barbara Streisand und sogar für Lynyrd Skynyrd. In den 1980er war er wieder bei den Stones und bei Keith Richards Soloprojekten. Ab „Steel Wheels“ (1989) spielte die texanische Sax-Maschine auf jeder Tour der Stones. Bei der Australien-Tour im Herbst 2014 trat er nicht mehr an. Die bekannte Dreifaltigkeit der Rockmusik hatte ihren Tribut gefordert. Bobby Keys starb an akutem Leberversagen. Sein Sax hämmert noch immer an den Sargdeckel: „Can’t You Hear Me Knocking?“

The Rolling Stones, Emotional Rescue, 1980

Produzent/ The Glimmer Twins

Label/ Rolling Stones

Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Kunstwerke sind nur dann wirklich von Interesse, wenn sie Widersprüche ausdrücken, ausleben, reflektieren, in sich tragen. „Some Girls“ war grossartig: nicht nur wegen so exzellenten Songs wie „Shattered“, sondern weil das ganze Album Rolle, Funktion und Tradition der Stones in ihrer und unserer Gegenwart diskutierte.

„Emotional Rescue“ schliesst nahtlos an „Some Girls“ an. Drei der zehn Songs erinnern an „Angie“ oder „Wild Horses“-Zeiten, nicht ganz so überragend, aber immer noch gut für ein warmes Rieseln auf dem Rücken, und das will schon was heissen. Mir gefallen „Send It To Me“ und „She’s So Cold“ am besten, auch wenn gewisse Leute diese Phrase vielleicht abgeschmackt finden. Doch Jet Set, Jerry Hall und die Pariser Nächte müssen für Jagger und Richards eine Inspiration gewesen sein. Aus jedem Song grunzt einem eine saturierte, grienende Lebensfreude von Leute entgegen, denen es an nichts fehlt und die sich soweit vom Gefühl des Mangels und des Selbstzweifels entfernt haben, dass der Unterschied zu einem Paul McCartney nur noch im Material liegt. Immerhin bleiben die Stones selbstironisch und lassen zu, dass man ihnen in die Karten schauen kann.

The Rolling Stones, Sympathy for the Devil, 1968

Text/Musik, Jagger-Richard

Produzent/ Jimmy Miller

Label/ Decca

Das erste Stück auf der LP „ Beggars Banquet“ ist ein hervorragendes Beispiel für den musikalischen Stil des ganzen Albums, aber auch für die politische Reflektion der turbulenten Zeit von 1968. Dabei war die Produktion von „Sympathy for the Devil“ eine mühsame Geschichte. Was Mick Jagger ins Studio brachte, war ein einfacher Folksong im Stil von Bob Dylan. Um es zu einer Rocknummer zu machen, brauchte man einen Rhythmus. im Studio wurden zwei Nächte lang sechs verschiedene Rhythmen ausprobiert, bis sich die Band für einen tanzbaren Bongo-Samba entschied. Nach Jaggers Auffassung wies die Samba eine „primitive“ afro-südamerikanische Unterströmung auf, die den Rhythmus für Weisse ein wenig unheimlich machte. Der Song beginnt ganz leise mit den Sambatrommeln. Und Mick Jagger singt den Part von Luzifer mit einer Stimme, die sanft und kultiviert beginnt, dann aber Vers für Vers an Aggressivität gewinnt. Und wenn der Teufel Sympathie und Höflichkeit einfordert, dann fühlt man sich an die Diktatoren erinnert, die die Untaten begonnen haben, die in dem Song angeklagt werden.

„Sympathy for the Devil“ war ein gefundenes Fressen für Satanisten. Dabei hatten die Stones mit Satanismus überhaupt nichts am Hut. Das Motiv des Teufels entstammt der traditionellen Religiösität, und so will es das Lied verstanden wissen. Das Innovative an dem Lied ist nicht das Teufelsmotiv und auch nicht die Darstellung des Teufels als intelligente, distinguierte Kreatur (die stammt von Bulgakow), sondern die Verbindung aktueller politischer Ereignisse (wie die Ermordung Robert F. Kennedys während der Aufnahme des Songs, die sich in einer geistesgegenwärtigen Anpassung des Texts an die Pluralform niederschlug) mit der zeitlosen philosophischen Erkenntnis des Bösen in der Natur des Menschen.

The Rolling Stones, Get Off Of My Cloud, 1965

Text/Musik/ Mick Jagger, Keith Richards

Produzent/ Andrew Loog Oldham

Label/ Decca

Die Themen, die in „Satisfaction“ angesprochen wurden – die Frustration, die die Konsumgesellschaft hervorruft, weil sie an den wahren Bedürfnissen der Menschen vorbeiproduziert, und den exaltierten Wunsch nach Befriedigung nicht nur sexueller Triebe- , griff die Band mit „Get Off Of My Cloud“ Ende 1965 erneut auf. Der Mensch, von dem Jagger hier mit Dylan’schem Erzählgestus berichtet, fühlt sich von Werbung und Interessenvertreter derart belästigt, dass er schliesslich nur noch allein sein und seine Ruhe haben will. Seine Klage kulminiert in dem wütend vorgebrachten Wunsch: „Hey You! Get off of my cloud/ Don’t hang around ‚cause two’s a crowd/ On my cloud, baby“.

„(I Can’t Get No) Satisfaction“ und „Get Off Of My Cloud“ sind zwei aus einer ganzen Reihe von Top-Ten-Singles (darunter auch „19th Nervous Breakdown“, „Paint It Black“, „Have You Seen Your Mother, Baby, Standing In The Shadow?“), die in den beiden folgenden Jahren den Status der Rolling Stones als einer der wichtigsten britischen Bands festigten.

The Rolling Stones, Charlie Is My Darling Ireland 1965, 2012

Produzent/ Bob Ludwig

Label/ ABKCO

Er hatte ein Gesicht wie Buster Keaton und liess sich schwer beeindrucken. Er hiess Charlie Watts, spielte Schlagzeug bei den Rolling Stones. Ohne Mick Jagger gäbe es keine Show, ohne Keith Richards gäbe es keine gute Show, aber ohne Charlie Watts gäbe es die Stones schon lange nicht mehr. Er hatte oft das letzte Wort, entwarf mit Mick die Bühnenbauten, entschied sich für den Jazz-Bassisten Darryl Jones als Nachfolger für Bill Wyman, wurde von Keith verehrt und nicht nur von ihm; alle in der Band wollten sein wie er. „Charlie Is My Darling“ heisst ein früher Dokumentarfilm über die Band, auf der Hülle von „Get Yer Ya-Ya’s Out“, dem Livealbum der Stones auf der Höhe ihres Könnens, sieht man nur ihn, und wenn der Sänger an den Konzerten die Band vorstellte, bekam der Schlagzeuger die längste Ovation.

Er blieb bescheiden. Sechzig Jahre beschränkte sich Charlie Watts auf ein minimales Aufgebot: Basspauke, Snare, Hi-Hat, zwei Toms, drei Becken. Sein Spiel klingt trocken, aber federnd, stilbewusst und elegant: harte Linke, swingende Rechte. Obwohl er sich, der Autodidakt, als Techniker nicht hoch bewertete, wurde er von vielen Schlagzeugern für seine Effizienz und seinen Ausdruck bewundert. Wirbel machte er selten, und es gibt kein einziges Schlagzeugsolo von ihm. Jeder Schlag zählt, weil keiner zu viel ist. Auch heute noch suchen junge Bands in Inseraten Schlagzeuger mit einem einzigen Satz: „Must play like Charlie Watts“.

The Rolling Stones, Street Fighting Man, 1968

Text/Musik/ Jagger, Richards

Produzent/ Jimmy Miller

Label/ London

1968 hatte Mick Jagger in London eine eher friedliche Demonstration gegen den Vietnamkrieg mit seiner eher kurzen Anwesenheit beehrt und sich ziemlich im Hintergrund gehalten. Vielleicht war er nur deshalb dabei gewesen, um hinterher einen Song darüber schreiben zu können. Der fiel dann jedenfalls entsprechend desillusioniert aus. Es sei zwar genau der richtige Zeitpunkt für eine Palastrevolution, aber da, wo er lebe, in dieser verschlafenen Stadt London, würden dummerweise nur Kompromisse gemacht, das sei einfach kein Platz für Strassenkämpfer. Insofern habe er gar keine Wahl: „Well, what can a poor boy do/Except to sing for a rock ’n‘ roll band.“

Das Cover der Single sprach eine andere Sprache. Drei Cops in Kampfmontur stehen vor einem niedergestreckten Demonstranten, einer hebt den Fuss, offenbar um noch einmal nachzutreten. Und so kann man hier einmal mehr beobachten, wie sehr der Kontext die Rezeption steuert. „Street Fighting Man“ wurde nun als forcierte Kampfansage aufgefasst – und eben nicht als faule Ausrede, warum man mit Jagger et alii nicht unbedingt rechnen müsse.

Keith Richards, Talk Is Cheap, 1988

Produzent/ Keith Richards, Esteban Jordan

Label/ Virgin Records

Er hat als Gitarrist der Rolling Stones und als Songsschreiber mit Mick Jagger über 60 Jahre lang gezeigt, warum es keinen gibt wie ihn. Keith Richards, der am 18. Dezember 2023 achtzig Jahre alt wird, hat musikalisch den Status des Klassikers und biografisch die Altersphase des Verknitterns erreicht, hat also nichts mehr zu beweisen und macht deshalb, was er will.

Bereits bei seinem ersten Soloalbum von 1988 sieht man, dass Richards auch alleine gute Sachen macht. Damals hing der Haussegen im Lager der Glimmer Twins mächtig schief: Mick Jagger war auf Solotournee und hatte das Interesse an den Rolling Stones vorübergehend verloren, Keith Richards reagierte sauer und stellte seinerseits eine eigene Band zusammen. Mit exzellenten Musiker wie Drummer Steve Jordan, Gitarrist Waddy Wachtel und Bassist Charley Drayton spielte er dann „Talk Is Cheap“ ein – eine ruppige Reise durch den musikalischen Kosmos des legendären Gitarristen, die deutlich zeigte, wer das musikalische Herz der Stones ist. Knorriger Rock („Take It So Hard“) wechselt hier ab mit rustikalem Funk („Big Enough“) und vitalem Rockabily („I Could Have Stood You Up“) und herzlichem Memphis Soul („Make No Mistake“. Das vielleicht beste Soloalbum eines Rolling Stone, dem man auch heute nicht anhört, dass es mehr als dreissig Jahre auf dem Buckel hat.

The Rolling Stones, T.A.M.I. Show, 1964

Produzent/ Lee Savin, Bill Sargent

Label/ American International Pictures

Am 26. Juli 2023 wird Mick Jagger achtzig Jahre alt. Der Sänger der Rolling Stones wurde geboren, als während des zweiten Weltkriegs Popmusik, wie wir sie heute kennen, Gestalt annahm. Als das amerikanische Radio auf der ganzen Welt zu hören war. Als die Musik für den amerikanischen Körper, den Körper der Freien und Reichen, ganz selbstverständlich die Musik des europäischen Geistes der Befreiten und Besiegten, zu einem obsoleten und toten Phänomen degradierte. Zur Musik Beethovens und Wagners war während des Faschismus gefeiert, in den Konzentrationslagern gemordet worden. Die neue Musik erstrahlte im Licht der Atombombe, Siegermusik, unbeschwert und lärmend, die nie vorgab, mehr als nur dem Augenblick zu huldigen. Daher ist Popmusik für jeden zu verstehen, von jedem zu machen, ihre Geschichte zu jener Zeit noch eine ungeschriebene Möglichkeit, ihr weltweiter Erfolg nicht mehr aufzuhalten.

Der Popchronist Nik Cohn schrieb über sein erstes Zusammentreffen mit den Rolling Stones im Jahr 1965: „ Eine grosse, protzige Limousine kam um die Ecke. Ihr folgten Polizeiwagen, Polizisten zu Fuss, Polizisten auf Motorrädern, und denen wiederum folgten mehrere hundert weibliche Teenager. Diese Mädchen machten einen nicht abbrechenden, schrillen und durchdringenden Lärm, und ihre Schuhe klapperten auf den Steinen. Sie rannten wie wahnsinnig, die Haare fielen ihnen über die Augen, und sie streckten flehentlich die Arme aus beim Laufen. Sie waren verzweifelt… Die Rolling Stones stiegen aus der Limousine. Sie hatten Haare bis über die Schultern, und sie trugen Sachen in unvorstellbaren Farben, und sie sahen gemein aus, sie sahen einfach unwahrscheinlich böse aus. In dieser grauen Strasse strahlten sie wie die Sonnengötter. Sie schienen nicht menschlich. Sie waren wie Geschöpfe von einem anderen Stern, unmöglich zu erreichen oder zu verstehen, unglaublich exotisch, ungeheuer schön in ihrer Hässlichkeit.“

Als Mick Jagger in den 90er Jahren in seinem von Fans umlagerten Hotel von einem Journalisten gefragt wurde, ob er wisse, warum die da draussen stehen, hatte er mit „Nein“ geantwortet. Denn keiner der Stars, der die meist kurze Phase der kreischenden Mädchen übersteht, um danach einen eigenständigen Beitrag zu Pophistorie zu liefern, wird später gerne daran erinnert, dass er seinen Erfolg eigentlich einer Art vorbewusster Kinderhysterie verdankt. Das veträgt sich schlecht mit einem Selbstverständnis als abgebrühter Musikmanager oder sensibler Popkünstler.

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The Rolling Stones, Jumpin‘ Jack Flash, 1968

Text/Musik/ Jagger/Richards

Produzent/ Jimmy Miller

Label/ Decca

Freiheit, Frechheit, Geilheit, Bosheit, Brüderlichkeit! Das Ding aus dem Sumpf, in dem du dich spiegeln kannst, und was siehst du? Dein eigenes wahres Gesicht, den Teufel, der nicht etwa im Detail steckt, sondern irgendwo zwischen deinen Rippen? Oder dein Wunsch-Ich, all das, was du immer sein und werden wolltest, das, was der Rock’n’Roll dir gegeben, dir aber auch immer wieder weggeschnappt hat?

Im Volksmund war „Jumpin’ Jack Flash“ das Stones-Stück, mit dem sie die Dämonen endlich zu sich eingeladen haben, die die Leute ihnen immerzu angedichtet hatten. Man hört hier den Ringkampf, das Leiernde und Aggressive, Tierische, wahnsinnig Lebensgierige, die Klapperschlange und den alten Mann mit Gitarre an der Unheilskreuzung. Wie der Körper zuckt und schlottert, durch den Howlin’ Fleischwolf gepresst wird, der Mythos in der Papiertüte landet – aber das alles soweit in Ordnung, ja „it’s a gas“. Es macht Spass.

The Rolling Stones, (I Can’t Get No) Satisfaction, 1965

Text/Musik/ Mick Jagger, Keith Richards

Produzent/ Andrew Loog Oldham

Label/ Decca

Dum dum – ba ba baa bababa – dum dum – die Gitarre schnarrt verzerrt und grosskotzig, während die Stimme – „I can’t get no…“ – den Klang eines nasenverstopften schwulen Bürgerlichen hat, der einen gelangweilten Adligen mimt. Mick Jagger, das Chamäleon, das bei der Anti-Vietnam-Demo in London mitmarschierte, kurz darauf ein Kricketmatch besuchte und sich der Vereinigung der Landbesitzer anschloss; das zwischen revolutionärem Gestus und Schickeria-Nähe keinen Widerspruch sah, singt den Song eher mit Arroganz als mit Aggression. Doch wenn Jagger zur Strophe kommt, wenn er in den Sprechgesang, den weissen Bourgeoisie-Rap, fällt, dann bekommt er jene Sachlichkeit, die seine Arroganz glaubwürdig macht: „When I’m watchin’ my TV / And that man comes on to tell me / How white my shirts can be/ Well, he can’t be a man ’cause he doesn’t smoke / The same cigarettes as me.“

Das ist purer Rock ’n’ Roll, gelangweilter Summertime-Blues, vermischt mit jener Blue-Suede-Shoes-Haltung, die keine grössere Beleidigung kennt als die Beschmutzung der blauen Wildlederschuhe. Die eigene Zigarettenmarke wird zum Massstab aller Dinge. Zugleich – und um die Arroganz zu mildern – kehrt er konsum- und bewusstseinskritisch die Werbung gegen sich selbst: Wer mir weisse Hemden verspricht, muss auch meine Marke rauchen. Kürzer und eleganter liess sich die Bewusstseinsmanipulation, wie der Terminus der Zeit damals lautete, kaum erledigen.