
Sister Rosetta Tharpe, Gospel Train, 1956
Produzent/ Ken Druker
Label/ Mercury
In einigen der wenigen historischen Filmaufnahmen ihrer Live-Auftritte sieht man eine Frau mittleren Alters auf der Bühne, ihr Dekolleté ziert eine funkelnde Halskette, die elegante, enganliegende Abendrobe reicht ihr bis zu den Waden. Das hält sie keineswegs davon ab, sich eine E-Gitarre umzuschnallen und auf dieser mit ausladenden Gesten zu spielen. Ein kurzer Blick ins Publikum, ein süffisantes Lachen, dann beginnt Rosetta mit erhobenem Zeigefinger zu singen: „I wanna tell you the natural facts, that the man don’t understand the good book write, and that’s all!“. Anschliessend widmet sie sie sich wieder ihrem Gitarrenspiel, das den Ton angibt, fasziniert und die Menge herauszufordern scheint: Na, wer von euch kann es mit mir aufnehmen?
Sister Rosetta Tharpe enwickelte in ihren Liedern eine einzigartige Mischung aus spirituellen Lyrics und rhythmischer Begleitmusik. Diese Begleitmusik gilt heute als Manifestation dessen, was später unter dem Namen Rock’n’Roll für unglaubliche Furore sorgen und die Popkultur des 20. Jahrhunderts prägen sollte wie kaum ein anderes musikalische Genre. Auch die Körperlichkeit, mit der Sister Rosetta Tharpe auf der Bühne performte und ihre Gitarre spielte, nahm das später zum Kult gewordene Gebaren männlicher Rock’n’Roll-Stars vorweg. Nicht zuletzt verlieh Rosettas Attitüde ihren Gospelzeilen bereits den herausfordernden Rock’n’Roll-Spirit, der das Genre später vorallem für junge Menschen so attraktiv und populär machen sollte.