The Beach Boys, Pet Sounds, 1966

Produzent/ Brian Wilson

Label/ Capitol

Im Grunde genommen war „Pet Sounds“ das erste Avantgarde-Album der Pop-Musik. Aber Brian Wilson war nicht der Typ, der mit grosser Geste eine musikalische Revolution ausrufen wollte – lieber erweiterte er den Pop-Song von innen heraus. Sein Understatement ist letztlich mitschuldig an den hartnäckigen Missverständnissen. Bis heute reduzieren viele die Beach Boys auf nette kleine Pop-Songs über Wellen, Autos und Strandhäschen in Bikinis – und merken nicht, dass das Wesentliche sich unter der harmonischen Oberfläche abspielt. Es sind die Texte und die Arrangements, die aus „Pet Sounds“ ein ausgereiftes Pop-Album machen.

1966 war für die Beach Boys nicht nur das Jahr von „Pet Sounds“, sondern auch von „Good Vibrations“, das ebenfalls für „Pet Sounds“ vorgesehen war, aber nicht rechtzeitig beendet wurde. Sechs Monate Arbeit in drei Studios, 90 Stunden Bandmaterial, 11 verschiedene Fassungen: Die statistischen Daten zu „Good Vibrations“ sind ebenso beeindruckend wie das Lied selber. „Good Vibrations“ war Brian Wilsons künstlerischer und kommerzieller Höhepunkt. Er verdichtet kühne Arrangements, krasse Stilbrüche und mehrere musikalische Themen zu einem lässig swingenden, einem perfekten Song.

The Mothers of Invention, Freak Out, 1966

Produzent/ Tom Wilson

Label/ Verve

„Freak Out“ war die erste Platte des schlagartig erwachenden Undergrounds. Frank Zappa hatte nicht nur „money at the bank“, sondern auch Recht. Er hatte etwas ganz Besonderes, was die anderen nur andeuten konnten. Zappa entwickelte eine im Pop noch unbekannte Kunst-Form. Er organisierte seine Kompositionen aus allen nur erdenklichen Genres von zeitgenössischer E-Musik über Jazz bis Doo Wop. Die überdrehten Sound- und Vortragseffekte der Fünfziger-Jahre-Novelty-Hits verband er mit suitenhaft angelegten Grosskompositionen, integrierte Hörspiel und Satyrspiel.

„Freak Out“ beginnt mit ein paar gelungenen Teenie-Balladen und Rock’n’Roll-Parodien. Es gibt etwas Gesellschaftskritik, ist aber insgesamt harmlos, bis Zappa in dem 11. Song die Frage stellt: „You’re Probably Wondering Why I’m Here?“. Dann bricht die Hölle über die Popgemeinde herein, zerplatzt neue Musik in Herzen und Hirnen. Ein langer, frenetischer, negrophiler Polit-Rap „Trouble Every Day“ wird von einem bluesigen Gitarrenriff angetrieben. Der Text behandelt die Rassenunruhen von 1965 in Watts, dem schwarzen Ghetto in Los Angeles; sie dauerten sechs Tage, 34 Menschen starben, über tausend wurden verletzt. Zappa beschreibt die Vorfälle aus der Sicht des Zuschauers, analysiert den Sensationalismus der Fernsehstationen und die Auswegslosigkeit des Ghettos, ohne dabei die weissen Opfer des schwarzen Mobs zu ignorieren: „I’m not black/ But there’s a whole lots a times/ I wish I could say I’m not white.“

Danach kommt dieser szenisch, aufgelöste, verfremdete Geniestreich „Help I’m a Rock“, um mit der Synthese „The Return of the Son of Monster Magnet“ zu schliessen: Macht zusammen die 27 besten Minuten, die das Album „Freak Out“ zu bieten hat. Ich meine: Frank Zappa war gut, genial, politisch, subversiv und lustig, aber man muss wirklich nicht alles von ihm mögen, speziell nicht diese jazzigen Endlos-Teile.

The Byrds, Mr. Tambourine Man, 1965

Text/Musik/ Bob Dylan

Produzent/ Terry Melcher

Label/ Columbia

Wir dachten ja, Dylan sänge schräg, aber McGuinn phrasierte seitwärts. Wahrscheinlich sang er einfach von „da oben“, wo die modernen Flugzeuge ihr kriiiiisssssshhhhh ertönen liessen, ein echter Byrd eben, das Geräusch hatte er sich bei diversen Nachmittagen mit Gene Clark und David Crosby auf dem Flughafen von LA. genau eingeprägt. Die Byrds hatten nicht nur die klassische Coolness der Westküste sondern auch die Skepsis des Folksängers, die nicht plötzlich verschwindet, wenn man Rock & Roll singt. Das war ein wichtiger Schritt für die Rock-Musik der 60er – das Verzichten auf Showmanship, man hatte ja tatsächlich etwas zu sagen, etwas Wichtiges, davon wollte man nicht mit albernen Posen ablenken.

Die Byrds waren auch die ersten, die Rock & Roll mit Intellektualismus verbanden. Es war nichts Besonderes, jemand wie Allen Ginsberg backstage bei einem Byrds-Konzert anzutreffen, auch Norman Mailer und Timothy Leary waren dabei, als sie ihr erstes New-York-Konzert gaben. Denn die Byrds waren nicht nur Musik, sondem auch Politik und Mystik. Selbst die letzten post-existenzialistischen-Jazz-Intellektuellen liefen zur Rock-Musik über. Denn was gab es Besseres als die brillante Pubertätslyrik des Bob Dylan? Nur noch die Byrds-Version der brillanten Pubertätslyrik des Bob Dylan, zu der man tanzen konnte, Groovy Chicks anmachen konnte und sich ausserdem noch im Einklang mit den unterdrückten Massen des gesamten Erdballs wusste.

The Rolling Stones, (I Can’t Get No) Satisfaction, 1965

Text/Musik/ Mick Jagger, Keith Richards

Produzent/ Andrew Loog Oldham

Label/ Decca

Dum dum – ba ba baa bababa – dum dum – die Gitarre schnarrt verzerrt und grosskotzig, während die Stimme – „I can’t get no…“ – den Klang eines nasenverstopften schwulen Bürgerlichen hat, der einen gelangweilten Adligen mimt. Mick Jagger, das Chamäleon, das bei der Anti-Vietnam-Demo in London mitmarschierte, kurz darauf ein Kricketmatch besuchte und sich der Vereinigung der Landbesitzer anschloss; das zwischen revolutionärem Gestus und Schickeria-Nähe keinen Widerspruch sah, singt den Song eher mit Arroganz als mit Aggression. Doch wenn Jagger zur Strophe kommt, wenn er in den Sprechgesang, den weissen Bourgeoisie-Rap, fällt, dann bekommt er jene Sachlichkeit, die seine Arroganz glaubwürdig macht: „When I’m watchin’ my TV / And that man comes on to tell me / How white my shirts can be/ Well, he can’t be a man ’cause he doesn’t smoke / The same cigarettes as me.“

Das ist purer Rock ’n’ Roll, gelangweilter Summertime-Blues, vermischt mit jener Blue-Suede-Shoes-Haltung, die keine grössere Beleidigung kennt als die Beschmutzung der blauen Wildlederschuhe. Die eigene Zigarettenmarke wird zum Massstab aller Dinge. Zugleich – und um die Arroganz zu mildern – kehrt er konsum- und bewusstseinskritisch die Werbung gegen sich selbst: Wer mir weisse Hemden verspricht, muss auch meine Marke rauchen. Kürzer und eleganter liess sich die Bewusstseinsmanipulation, wie der Terminus der Zeit damals lautete, kaum erledigen.

The Beatles, A Hard Day’s Night, 1964

Produzent/ George Martin

Label/ Parlophone

Meine erste Langspielplatte war „A Hard Day’s Night“ – ich hatte sie von meiner Tante geschenkt bekommen. Die Eltern hatten für diese Musik nur ein verständnislos-mitleidiges Lächeln übrig. Und dann erst die Haare von diesen Typen! Vorn in die Stirn gekämmt, und hinten berührten sie fast den Hemdkragen. Im Muff der frühen 60er Jahre galt das adrette Aussehen der Beatles als skandalös und ungepflegt. Und ungepflegt und zügellos, aufsässig und provokativ wirkte die Musik. Lehrer und Pfarrer sahen darin den Untergang des Abendlandes heraufdämmern. Die Russen waren als Bedrohung schlimm, aber als Verführer der sauberen Jugend waren die Beatles eine Katastrophe.

Ich legte die Platte auf den Teller wie ein Juwelier ein Diadem auf Samt bettet. Der Tonarm ruckte und zuckte schwerfällig auf die Anfangsrille, leichtes Knistern, und dann, unglaublich, dieser offene und alles öffnende Akkord. Natürlich hatten nicht alle Songs den elektrisierenden Effekt wie das Titelstück und „Any Time At All“. Es gab auch ein paar fröhliche Einweglieder wie „I’m Happy Just To Dance With You“ und „Tell Me Why“, aber die wurden von wunderschönen Stücken wie „And I Love Her“ und „If I Fell“ ausgeglichen –  „A Hard Day’s Night“: Das war für mich nicht nur der Soundtrack des Beatles-Films, das war der Soundtrack des ganzen Lebens.

The Shangri-Las, Leader of the Pack, 1964

Text/Musik/ Jeff Barry, Ellie Greenwich, Shadow Morton

Produzent/ Shadow Morton

Label/ Red Bird

Die späten Fünfziger und frühen Sechziger waren die Zeit der Mädchenbands. Zur damaligen Zeit tat man die Musik als Teenagerbanalität ab, doch die Platten der Chantels und der Shirelles haben ebenso wie die Songs von Bad-Girl-Bands wie den Ronettes oder den Shangri-Las als zeitlose Werke auf dem Musikmarkt bestehen können. Vorallem die Shangri-Las hatten einen todsicheren exakten Sinn für die der Inflation der Gefühle zum Opfer gefallenen Lebenskonzepte der Jugend – wie absurd sie auch immer sein mochten, ihre Melodramen en Miniature waren um keinen Deut weniger überkandidelt als die täglichen Exzesse der erwachsenden Gefühle jener Halbwüchsigen, die ihre Platten kauften.

Was Shadow Morton und die Shangri-Las versuchten, war, jenen Leuten das Rückgrat zu stärken, die glauben mussten, das die Rückgewinnung einer eigenen Identität eine Tat von heroischem Format sei, dass Mama und Papa die Tiefe ihre Gefühle nie und nimmer verstehen könnten. Da waren die abendlichen Strassen, die düsteren Parkanlagen, die Mauerblümchen und die Jungs mit dem eigenen Schlüssel für Papas Wagen. Als aber das ordinäre Süssholzgeraspel von „Give Him A Big Kiss“ und die mit allen Wasser gewaschene Aufforderung von „Right Now And Not Later“ dem dümmlichen Bla Bla von „Long Live Our Love“ mit seiner When-Johnny-comes-marching-home-Einlage und den vagen Einspielungen auf ferne Kriege und die böse Welt wich, war das Konzept am Ende. Was die jugendlichen Outlaws wollten, das waren Strassen-Schlachten und kein Guerilla-Krieg. Die Shangri-Las hatten es für eine Zeit lang gebracht, dann waren sie verschwunden. Aber solange sie da waren, na ja, hört euch doch mal ihr „Leader Of The Pack“ an und alles ist klar.

Neil Young, Harvest, 1972

Produzent/ Neil Young, Jack Nitzsche

Label/ Reprise

„Harvest“ mit dem Hitmonster „Heart of Gold“ wurde damals als „kommerzieller Mist“ abgetan. Nichts war uncooler, als diese Platte zu mögen. „Harvest“ in aller Öffentlichkeit aufzulegen, das war wie Kindersex im Internet: Alltag, aber so etwas von unkorrekt! Dabei serviert uns hier ein auf die 30 zugehender Superstar seine ganze Twen-Angst, sein Bibbern vor dem Altern, sein bisschen Philosophie, spielt sein ungeheures Potential aus, ebenso einfache wie wundersam dauerhafte Melodien zu zaubern, zelebriert seine hünenhafte Selbstgerechtigkeit, die nur noch von seinem Mitgefühl für sein eben dem Krankenbett entwichenen Ich und eine Handvoll Freunde übertroffen wird.

Dazu chargiert Jack Nitzsche bombastische Orchesterarrangements à la Gershwin bis wir knietief durch Blut, Streicher und Tränen waten: Ja, „A Man Needs a Maid“. Dies alles in seiner Monströsität zu schätzen und zu verstehen, das Album „Harvest“ zu lieben, es nicht nur hippielagerfeuermässig auf das Nachträllern trauriger Liedchen zu reduzieren, sondern es in seiner Grösse, in seiner Humanität, Romantik und Sentimentalität auszustellen, das zeichnet den wahren Neil-Young-Fan aus, und nicht der Besitz einer 10-CD-Sammlung mit Live-Aufnahmen.

Tony Joe White, Uncovered, 2006

Produzent/ Jody White, Tony Joe White

Label/ Swamp Records

Wenn ein legendärer Künstler einen alten Hit neu aufnimmt, ist das gewöhnlich ein ganz schlechte Idee. Zu sehr riecht das nach billigem Kaufanreiz. Doch dann hört man diese Zeitlupenversion von „Rainy Night In Georgia“… So viel Nacht war nie um diesen Klassiker, so bedrohlich leise hat White ihn noch nie geraunt; solch Orgelschmelz, so eine verletzliche Harmonika, so sanft gepatschte Trommelstöcke trugen diesen Song noch nie; und selbst die „Aaahs“ und „Uuuhs“ des Frauenchors schaden seiner intimen Intensität nicht.

„Rany Night In Georgia“ ist der siebte Song auf Tony Joe Whites Album „ Uncovered“, und die davor sind auch gut. Der Mann, der Ende der 60er Rock, Soul und Blues zum Swamprock verschmolz und Hits für Elvis („Polk Salad Annie“) oder Ray Charles (eben „Rainy Night…“) schrieb, bewegt sich altersweise auf ureigenem Terrain. Nichts erinnert mehr an seinen Schlafzimmersoul der späten 70er- und der 80er Jahre. Jeder Gitarrenton, jeder Bläserton hat seinen richtigen Ort. Und die Superstars unter den Gästen – darunter Eric Clapton, Mark Knopfler und J. J. Cale – ordnen sich ganz einem ebenso Grossen unter. Ein Album, das man eher mit glühenden Kohlen als mit einem offenen Kaminfeuer assoziiert.

The Roches, 1979

Produzent/ Robert Fripp

Label/ Warner Bros.

Total überdrehter oder ausgelinkter Folk, schon allein wegen der sparsamen Begleitinstrumentierung und wegen der puren Gesangsstimmen. Die drei Roche-Schwester aus New Jersey singen allereinfachste Folk-Melodien, um sie jedoch in den unerwartesten Momenten zu vielstimmig breiten Harmonien auszuweiten und als Schluss einen verminderten Noneakkord, oder was weiss ich für eine komplizierte Klangschichtung nicht scheuen. Ihre Songs handeln von den kleinen, privaten Dingen des Alltags. So ist Terres „Mr. Sellack“ nichts weiter als die Bitte, in der Hamburgerbude dieses Herren wieder einen Job zu bekommen, und Suzzys „The Train“ handelt von einem verschwitzten und wortlosen Gegenübersitzen mit einem biertrinkenden Fettwanst im Zug. Doch unterscheiden sich die Roches in einem ganz wesentlichen Punkt von traditionellen Folksängerinnen: wo diese in Hingabe schmachten und in Spitzenhäubchenidylle zerlaufen wie Vanillepudding, der sich beim Stürzen als nicht steif geworden entpuppt, da reagieren jene rotznäsig oder lachen hämisch auf. Und Robert Fripp, der die Platte produziert hat, hat dafür gesorgt, dass das Werk durch sein fabelhaftes Gesamtkonzept glänzt, auch wenn seine E-Gitarre und seine „Fripperies“ kaum oder selten hörbar ist.

Tja, und auch nach ihrem Debüt sind die drei Roche-Schwestern in unregelmässigen Abständen in Erscheinung getreten, bis zum Krebs-Tod von Maggie Roche im Januar 2017. Sie haben dabei ihre herzige Unverblümtheit nie verloren. Kein Gerangel im Show-Biz, im Kampf um Marktanteile und Edelmetall-Alben. Also blieben sie ein „Geheimtipp“, der irgendwann starb, ohne dass jene Welt davon Notiz nahm, für die (und für jene Karrieremodelle) sie ja sowieso viel zu brillant waren.

Miles Davis, We Want Miles, 1982

Produzent/ Theo Macero

Label/ Columbia Records

Das Album „We Want Miles“ gefällt mir ausserordentlich gut. Eine packende Mischung aus Rhythmus und weichen, klaren Stellen, ruhig, melodisch, Ruhepause, dann wieder Tempo. Intensität. Jazz. Ob er nun der Grösste war oder nicht, spielt keine Rolle, es zählt die Musik. Bei der werde ich nachdenklich und melancholisch. Oder: in einem dunklen Café sitzen, durch Milchglasscheiben schauen, träumen – aber hellwach. Oder: Im 31. Stock eines Hochhauses. Vielleicht New York. Wie immer: Miles Davis versteht es als Bandleader elegant mit dem Klangraum umzugehen und nur die nötigsten Noten zu spielen. Al Foster am Schlagzeug und Marcus Miller am Bass grooven lässig und reduziert. Mike Sterns heftige Rockausfälle an der Gitarre wirken stellenweise deplatziert und Bill Evan’s Tenorsaxophon manchmal formelhaft. Die Band insgesamt aber ist exzellent, der Sound ungewöhnlich kompakt und Miles an der Trompete ein Charismatiker. Kategorien, Mauern, Stecknadeln fallen… Miles away… Ich trinke den Rest kalten Kaffee in der Tasse auf dem Schreibtisch aus. Ein Blick auf die Uhr. Das Fenster ganz weit öffnen. Room-Service. „Hallo???“ –  „We want Miles!“