Patti Smith Group, Radio Ethiopia, 1976

Produzent/ Jack Douglas

Label/ Arista

Bei einem meiner frühen Aufenthalte in London kaufte ich mir „Horses“ im Virgin-Plattenladen an der Oxford Street. Das deutsche „Sounds“ kaufte ich eine Woche später am Berner Bahnhofskiosk. Hier wurde sehr geschwärmt von Patti Smith. Das elegante Cover machte den Kauf noch unwiderstehlicher. Zu Hause erfasste mich Patti Smiths Debütalbum mit voller Wucht. Das zweite Album „Radio Ethiopia“ fand ich eher noch spannender. Es war wilder, weniger pathetisch und irgendwie einfach symphatischer.

Am 12. Oktober 1976 erlebte ich sie in der Roten Fabrik in Zürich – breitbeinig in augenfunkelnder Kampfpose schrie sie ins Mikrofon:  „Where do we fight?“ und jedesmal antwortet die Band im Chor: „In the field!“, kurz bevor sie dann loslegten mit „My Generation“. Und bei „Radio Ethiopia“, live on stage, die Smith mit ihren typischen Unterbrechungen zwischen den Songs. Sie improvisierte im Monolog über ägyptische Kalligraphie und Körpersprache, versuchte sich an einer positiven Definition von Faschismus, schweifte ab und verlor ein paar Sekunden den roten Faden, bevor sie sich wieder auffing, an den Bühnenrand sprang und wie ein Derwisch tanzte und stampfte zum Rock & Roll ihrer Band. Unter den Anwesenden in der gut gefüllten Fabrikhalle schienen sich einige Konzertbesucher aber provoziert zu fühlen. Jedenfalls liess dann jemand eine Tränengasbombe los, das halbe Publikum suchte das Weite, der Rest heulte ins T-Shirt, Smith und die Band spielten einfach weiter als sei nichts passiert. Grandios!

Sleater-Kinney, The Woods, 2004

Produzent/ Dave Fridman

Label/ Sub Pop

Okay, sie sind lesbisch und unverschämt und laut, aber das waren Phranc, das sind L7 auch. Was macht eine Frauenband aus. Hat diese Bezeichnung eigentlich irgendeinen Wert? Gibt es so etwas wie Frauenbands überhaupt? Was macht eine Band, was macht Sleater-Kinney zu einer Frauenband oder nicht? Hoseninhalte? Songinhalte? Genderpolitisches Engagement? Sexuelle Präferenz? Eine komplexe Frage, der beizukommen hier wohl kaum genug Platz ist.

Wenden wir uns also stattdessen dem löchrigen Boden der Tatsachen zu. Und der zeigt, dass Carrie Brownstein, Corin Tucker und Janet Weiss songschreiberisch von überlegener intelligenz und Verschlagenheit sind, dass sie auch auf ihrem Album „The Woods“ relevante Themen verhandeln, die von Konsumkritik bis Liebe und Rollenverständnis reichen. Die Musik ist schnell, aber nicht überschnell, laut einfach. Dick wattierten Gitarrenparkas, sich abwechselnden und komplettierenden Stimmen, solidem, häufig auch gegenläufigem Bass und einem druckvollen, entfesselten Schlagzeug, das gleichsam ballern und tappen kann. Kurz: Sleater-Kinney machen intelligente und inspirierte Musik. Von Frauen. Für alle. Punkt.

Patti Smith, Rock ’n‘ Roll Nigger, 1978

Text/Musik Patti Smith, Lenny Kaye

Produzent/ Jimmy Iovine

Label/ Arista

„Rock ’n’ Roll Nigger“ war auf Patti Smiths drittem Album „Easter“ von 1978 erschienen und gab schon damals zu reden. Darin lag auch die Absicht der Autorin, die sich natürlich bewusst war, dass „Nigger“ als rassistische Beschimpfung auf die Sklaverei verweist. Und dass Afroamerikaner wie der Komiker Richard Pryor oder die Hip-Hop-Gruppe Niggaz with Attitude den Begriff demonstrativ weiterverwenden durften im Sinne eines positiven Stigmas, als eine Art rhetorische Rückeroberung. Dass es aber Weissen untersagt bleiben muss, das Wort zu verwenden, weil es weisse Herrschaft und schwarze Unterdrückung signalisiert.

Patti Smith war es darum gegangen, das Schimpfwort auf alle Randständigen oder Verstossenen oder Irregewordenen auszuweiten, weshalb sie konsequenterweise sang: „Jimi Hendrix was a nigga / Jesus Christ and grandma, too / Jackson Pollock was a nigga.“ Aber spätestens wenn die Grossmutter in dem Song ihren Auftritt hat, sollte klar werden, dass Patti Smith das Lied auch als eine Art gesungenen Comic verstanden haben wollte, als Parodie seiner selbst, als Lustigmachen über die eigene Empörung. Dazu passt die demonstrativ primitive Musik, die Patti Smith und ihr Gitarrist Lenny Kaye zu den Lyrics komponierten. Denn der Song kommt als primitiver Rock-Trash daher, als Übertreibung bis zur Farce. Damit macht die Sängerin klar, dass sie das N-Wort niemals wörtlich verstanden haben will, als Verhöhnung der Afroamerikaner als ehemalige Sklaven. Sondern dass sie sich über die groteske Verklärung des Opfers an sich lustig macht, indem sie es mit einer so grellen Übertreibung feiert.

Daran hat sich nichts geändert, auch wenn es im heutigen Denunziationsklima undenkbar wäre, einen solchen Song veröffentlichen zu wollen. Das aber hat Patti Smith nie gekümmert. Sie hat ihren Song mehrmals verteidigt und dabei das Recht auf freie Meinungsäusserung eingefordert.

The Ramones, I Wanna Be Sedated, 1978

Text/Musik/ The Ramones

Produzent/ Tommy Ramone, Ed Stasium

Label/ Sire Records

Drei Akkorde, wahnwitziges Tempo, eingängige Refrains. Dazu Texte, die von Klebstoff, Gehirnwäsche und imaginären Nazi-Schatzis handelten – und davon, wie langweilig es ist, ein Teenager zu sein. Die Ramones haben den Punkrock vielleicht nicht erfunden, aber sie haben ihn geprägt und populär gemacht wie keine zweite Band. Uniformiert mit schwarzen Lederjacken, zerrissenen Röhrenjeans, ausgelatschten Billigturnschuhen und helmartigen Frisuren spielten sie regelmässig im CBGB’s an der Lower East Side, dem Zentrum der New Yorker Punkszene. Musikalisch und inhaltlich bedienten sie sich beim Bubblegum-Pop der 60er – nur verzichteten sie auf jegliches Ornament und verdoppelten die Geschwindigkeit. Besonders in England hatte dieser Sound eine nachhaltige Wirkung, wo sich viele frühen Punkbands an das kompromisslose Geholze der Ramones anlehnten.

„I Wanna Be Sedated“ stammt aus dem vierten Album „Road To Ruin“. Leicht humoristisch verbrämt, erzählt der Song vom immensen Tourstress der Band. Um die Plattenverkäufe anzukurbeln, wurden sie von ihrem Label verdonnert, so viele Konzerte wie möglich zu spielen, ohne Rücksicht auf Verlust: „Just put me in a wheelchair, get me to the show.“

Auch wenn die Ramones nie so etwas wie einen Hit hatten und einander spätestens nach 1978 persönlich nicht mehr ausstehen konnten, hielten sie zwanzig Jahre lang stur an ihrem Stil fest. Als sie sich im Herbst 1996 auflösten, konnten sie auf 14 Studioalben und unglaubliche 2263 Konzerte zurückblicken. Jeder dieser Auftritte begann mit einem krude ins Mikro gebrüllten: „One – two – three – four“.

The Undertones, All Wrapped Up, 1983

Produzent/ Roger Bechirian, The Undertones

Label/ Ardeck

Die Undertones waren prägnant, präzise, charmant, witzig und unverwechselbar. Lag am Anfang ihre Musik auf einem Energie- und Tempolevel, wurde später auch mal die Geschwindigkeit gewechselt, der Beat unterbrochen und manchmal sogar eine akustische Gitarre in den Vordergrund gemischt. Das alles änderte nichts an dem suburbanen Geist, der die Musik der Undertones bestimmt. Programmatisch und satirisch geht es dabei um Girls, um Ärgernisse des alltäglichen Lebens, wie z.B. doofe Musterknaben („My Perfect Cousin“). Der bekannteste Titel von den Undertones ist „Teenage Kicks“, mit der treffende und gelungenen Rock’n’Roll Zeile: „Teenage dreams, so hard to beat“, die die Inschrift des Grabsteins von John Peel ziert.

Den Undertones fehlt alles Martialische, Seriöse, Verkrampfte; ihre Songs haben nicht diese grossen politischen Themen, mit denen damals viele Bands schwanger gingen. Ich schätze ihre Musik. Um diese zu geniessen, muss man sie mit Vollpower abspielen.

Pretenders, 1979

Produzent/ Chris Thomas, Nick Lowe

Label/ Sire

Wer Ende der Siebziger in England auf Platz eins kommen wollte, musste Eklektizist sein, je cleverer desto smart. Originäres war nicht gefragt, zumindest nicht in den Top 10. Chrissie Hynde wusste das sehr genau, hatte sie doch auf ihrem Weg bereits genügend Experimente durchgemacht und kannte sich im Rock-Business aus.

Das Debütalbum der Pretenders wurde damals von der englischen Musikpresse fast ins Unermessliche als grossartige Mischung von alt/neu gelobt. Zunächst ist das mal Hard-Rock, wie er damals beim jugendlichen Publikum recht beliebt war. „Precious“, der Aufmacher, hat den nötigen Dampf und genügend Stakkato um Eintönigkeit zu umgehen, die folgenden Titel zeigen jedoch trotz dem Widerhaken im Musikus von Chrissie Hyndes spielender Stimme eine schwache Band. Wenn schon Hard-Rock, dann brauchts hier Phil May an der Gitarre oder Stewart Copeland am Schlagzeug, um den Karren aus dem Dreck zu ziehen.

Aber dann kommt „Stop Your Sobbing“, der alte Kinks-Titel und der erste Single-Hit der Pretenders markiert den Wendepunkt, hin zum wunderschönen Uuuh-Aaah-Pop, von dem ich bis heute nicht genug bekommen kann. „Stop Your Sobbing“ ist für mich eindeutig der Höhepunkt des Albums (Nick Lowe hatte hier kaum, mal viel die Hand im Spiel). „Kid“ hat ein überdeutliches Shadows-Intro, die Staubschicht der Nostalgie liegt nicht mehr allzu fern, und danach kommt so eine Mixtur aus verquirlter Patti Smith und steif geschlagener Police – und was an „Brass In The Pocket“ so toll sein soll, dass es in England zu einem Nummer 1 Hit wurde, weiss ich auch nicht. Immerhin überzeugt hier Chrissie Hyndes Gesang.

Das Debütalbum der Pretenders ist sicher kein grossartiges Meisterwerk, aber wenn ich mir den verschlafenen mädchenhaften Stil heutiger Sängerinnen anhöre, dann überzeugt mich Chrissie Hyndes Power allemal.

Elvis Costello, My Aim Is True, 1977

Produzent/ Nick Lowe

Label/ Stiff

Erste Bekanntschaft mit Elvis Costello machte ich im Herbst 1977 in einem Schallplattenladen in der Nähe vom Piccadilly Circus. Auf „My Aim Is True“ sind für mich nach wie vor ein paar der stärksten Kompositionen Costellos darauf. Was und wie Elvis singt, weist für einen Punk-Rocker viel Gefühl auf. Wenn es einen Vergleich mit Graham Parker gibt, so ist dieser ein wirklicher Optimist gegen den selbstquälerischen Realisten Elvis, der hier in zwölf Songs seine sexuellen Erfahrungen und Missgeschicke erzählt. Musikalisch bewegt er sich einerseits im Rockabilly der 60er Jahre, wie etwa auf „Mystery Dance“ wo er sein erstes sexuelles Erlebnis mit einem Mädchen beschreibt, oder auf „No Dancing“, das an die Ronettes erinnert. Anderseits gibt es immer wieder Rhythm’n’Blues wie bei „Sneaky Feelings“ oder auf „I’m Not Angry“. Und „Alison“ ist wohl nach wie vor einer der schönsten Schmachtfetzen, den ich kenne.

Begleitet wird Elvis Costello auf diesem Album von der unbekannten Gruppe The Shamrocks, produziert hat Nick Lowe, der auch für andere Stiff-Musiker, vorallem aber für Graham Parker verantwortlich ist. Ein zweiter Graham Parker ist Elvis Costello nicht geworden, auch nicht „Elvis is King!“ wie es die hundertfach wiederholte Minischrift auf dem winzigen Schachbrettmuster des Covers verkündet. Eher sowas wie der „Mystery Man“, der feststellt: „Don’t you think, that walking on the water won’t make me a Miracle Man?“

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Nirvana, Smells Like Teen Spirit, 1991

Text/Musik/ Kurt Cobain, Dave Grohl, Krist Novoselic

Produzent/ Butch Vig

Label/ Geffen Records

Es waren die späten Achtziger, und die Generation X langweilte sich schrecklich, als plötzlich eine chaotische Garagenband aus Seattle die Szene stürmte. Die zerbrechliche Frontfigur mit dem schmutzig-strähnigen Haar und dem Namen Kurt Cobain war genau, wonach sie suchte. Cobain sprach für Millionen von Jugendlichen, die nicht mehr an die Rockmusik glaubten. Man braucht sich nicht in die Musik von Nirvana zu vertiefen, um ihr wichtigstes Thema zu finden: die tiefe Unzufriedenheit mit der Masslosigkeit des Lebens. Und „Smells Like Teen Spirit“ war das Kampflied eines Gefühls, das jeder Heranwachsende kannte, aber keiner aussprach: Angst.

Aber nicht nur das, wofür sie standen, machten Nirvana zu einer wichtigen Band. Ironischerweise löste Cobains achtloser „Direkt-vom-Bett-auf-die-Bühne-Stil“ eine neue Modebewegung aus. Sein Leben auf der Überholspur faszinierte mindestes so stark wie seine Gitarrengriffe. Und wie alle wichtigen Rockepochen hatte auch Grunge eine Drogenkultur. Für seinen selbstzerstörerischen Narzissmus konnte Cobains Droge nur Heroin heissen.

Ausschlaggebend für Nirvanas Aufstieg in den Rockolymp war aber der 5. April 1994, als Cobain sich mit 27 Jahren eine Ladung Schrot durchs Hirn jagte – er beendete sein Leben, das so kurz war wie ein gutes Punkrockalbum. Im Abschiedsbrief hatte er Neil Young zitiert: „Better to burn out than fade away.“ Cobains Tod beflügelte die Verschwörungstheoretiker, aber er gab seiner Musik auch eine Romantik und Einzigartigkeit, die sie unberührbar und über jeden Zweifel erhaben macht.

The Gun Club, Fire of Love, 1981

Produzent/ Chris D., Tito Larriva

Label/ Ruby

Der Gun Club. Das Debütalbum „Fire of Love“ schürfte 1981 tief in der Musikgeschichte: Der Blues der 1930er klingt immer wieder durch, in den Akkordfolgen und auch im Gestus der Musik. Aber zusammengeschmissen mit dem zeitgenössischen Postpunk der frühen Achtziger. Natürlich ist alles zentriert um das Jaulen des egomanen, früh verfetteten, früh verstorbenen Jeffrey Lee Pierce. Der Sänger liebt Rituale. Die Grossstadt hat ihn aufgenommen, ein echter Sohn des heissen Pflasters, aber in seiner Seele wüten Aberglauben, puritanisch religiöser Wahn und der halsstarrig amerikanische Traum gegen alles Wissen um Tatsachen und aufgeklärte Vernunft. Die Wüste ruft in die Einsamkeit und Verlorenheit, auf endlose Highways und immer auf der Flucht vor den Blechdosen am eigenen Schwanz. Wenn man „Fire of Love“ hört, schluckt man soviel Staub, dass die Lungen platzen.

Was ist ein Amerikaner, der sein Land hasst? Wenn auch das letzte Ideal nackt und frierend, würdelos im Regen steht, hetzt er ruhelos und verzweifelt die Gespenster, die ihn jagen. Sie wollen ihm sein Land miesmachen. Gun Club sind wie Jerry Lee Lewis der angesichts von „Great Balls Of Fire“ plötzlich vor dem göttlichen Gericht zittert. Und dann trotzdem singt. „Got my mojo working, but it just don’t work on you…“. Wie gesagt, die Platte ist gut, vorallen nachts, wenn man nicht einschlafen kann. Manchmal zählt eben nicht die richtige Tonart, sondern die richtige Tönung.

Wreckless Eric, Whole Wide World, 1977

Text/Musik/ Eric Goulden

Produzent/ Ian Dury, Nick Lowe

Label/ Stiff

Nach längerer Zeit mal wieder „Whole Wide World“ aufgelegt. Ein kleiner Schrammel-Hit. Gespielt von der Einmann-Punk-Band Wreckless Eric. Für mich war er irgendwie der Grösste, weil er fast alle Dinge, bei denen andere Leuten, um cool und geheimnisvoll und aggressiv zu wirken, in Moll, Blues, Spanisch und Kirchtonarten spielten, in Dur erledigte. Deswegen ist er weniger zum Grosskünstler geworden, ist mir aber doch fast noch sympathischer als der Varianten-Kaiser Elvis Costello, mit dem er zusammen bei Stiff Records anfing.

Seit dem Debüt „Whole Wide World“ hat Wreckless Eric (oder Eric Goulden wie er mit bürgerlichem Nachnamen heisst) ein tolles Händchen für eingängige, rotzige Popsongs. Vomüber den herrlich süffisanten Rock-Stampfer „Pop Song“, in dem er sich eben dieses Talent kokettierenderweise, wegen mangelnden Erfolgs, selbst auf die Schippe nahm – bis zu der den Kinks geschuldeten Jahrmarktsmelodie von „Hit And Miss Judy“ oder dem Brit-Pop Blueprint von „Broken Doll“. Im Grunde war dem Mann stilistisch weder etwas heilig, noch irgendetwas zu peinlich; genau das ist aber gleichzeitig auch der Grund warum sich diese Songs heute immer noch frisch anhören. Auf „Greatest Stiffs“ gibt es jede Menge herzzerreissende und keineswegs, wie es zunächst scheinen mag, unbeschwerte Party- und Beat-Musik aus glorreichen Punkzeiten.