The Pretenders, Learning to Crawl, 1984

Produzent/ Chris Thomas

Label/ Sire

Seit den Hits „Brass In Pocket“ und „Stop Your Sobbing“ waren Jahre vergangen. Nach den Erfolgen kamen Stagnation, Todesfälle (Honeyman-Scott und Fardon) und Mutterfreuden – die Pretenders schienen am Ende. Umso erfreulicher, dass die Songschreiberin/ Sängerin Chrissie Hynde und Drummer Martin Chambers 1984 eine Neuauflage der Band starteten.

„Learning to Crawl“ ist die erste LP der Gruppe mit einem Titel. Das Album wurde in neuer Besetzung – mit Robbie McIntosh (Gitarre) und Malcolm Foster (Bass) eingespielt und gilt als überzeugendes Comeback. Musikalisch hat sich nicht viel verändert: gitarrenorientierter, rockiger Pop, pathetisch bis mitreissend/frisch. Gleich beim ersten Titel „Middle of the Road“ klingt Chrissie Hynde’s mit ihrer kühlen Erotik in der Stimme sehr erfreulich; ausserdem ist das ein herrlich rollender Rocksong, der gegen Ende immer besser wird. Zu den weiteren Lichtblicken gehören die Neuaufnahme von „ Back on the Chain Gang“, die Ballade „Show Me“, sowie die einfühlsame Cover-Interpretation des Presuaders-Song „It’s A Thin Line Between Love And Hate“. Die Single „2000 Miles“ darf natürlich nicht fehlen, doch diese bemühte Weihnachtsstimmung mag ich weniger…

Bruce Springsteen, Nebraska ’82, 2025

Produzent/ John Landau

Label/ Columbia Records

„Electric Nebraska“ war über 40 Jahre ein Gerücht, nicht einmal Co-Produzent und Gitarrist Steven Van Zandt konnte sich, bevor Springsteen in diesem Jahr sein Archiv öffnete, erinnern, wie das Album geklungen hatte. Springsteen spielte „Nebraska“ am 3. Januar 1982 allein zu Hause ein, im April folgten die Bandaufnahmen, doch er war nicht überzeugt und veröffentlichte im Herbst 82 die Solo-Aufnahmen. Die E-Street Band spielte dann 1983 das Album „Born in the USA“ ein, dessen Titelsong Springsteen seit Ende der 70er Jahre herumwälzte und auch während den „Nebraska“-Sessions in zwei Versionen aufnahm.

„Electric Nebraska“ fehlt der Bombast der E-Street Band und die 80er-Jahre-Überproduktion von „Born in the USA“. Die Songs haben keine Refrains, was bei der Originalversion mit Gitarre und Harmonika nicht auffällt, weil Springsteen alles in seine Performance gelegt hat, weshalb „Nebraska“ heute so bedeutend ist. Original, Outtakes und Bandalbum sind mit einer Liveaufnahme von 2025 im Boxset „Nebraska ’82“ enthalten. Es war wohl richtig, die ursprüngliche Version zu veröffentlichen und das elektrische Album heuer nachzuschieben. Trotz ihres Erfolgs ist aber fraglich, ob die Hitversion von „Born in the USA“ wirklich die definitive ist.

The Beach Boys, Pet Sounds, 1966

Produzent/ Brian Wilson

Label/ Capitol Records

Als Autor, Musiker, Produzent  – als Gehirn der Beach Boys stand Brian Wilson in den Sechzigern enorm unter Druck. Praktisch im Alleingang musste er bis zu drei LPs pro Jahr vorlegen. Erste Konsequenz: der Rückzug aus dem Tourgeschäft. Brian Wilson flüchtete sich ins Studio, wie er sich später in sein Zimmer flüchtete – und in Drogen aller Art. Es gehört zur Ironie des kalifornischen Albtraums, dass einige der besten Songs der Beach Boys als Zeugnisse einer schweren psychischen und physischen Krise verstanden werden müssen.

Einen seiner Geniestreichs pflegte Wilson später auf Tour so anzukündigen: „God Only Knows“. Paul McCartney hat mal gesagt, das sei sein Lieblingssong.“ Nun muss man weder an den Beatle noch an Gott glauben, um „God Only Knows“ schön zu finden. Der Song eröffnet die zweite Seite des Albums „Pet Sounds“. Es erschien im Mai 1966 und war ein Quantensprung in der Popmusik, wie fünf Monate davor „Rubber Soul“ von den Beatles, wie drei Monate danach „Revolver“ wieder von den Beatles. Nie zuvor passierte im Pop in kürzester Zeit mehr Bahnbrechendes als zwischen Ende 65 und Mitte 67. Die Beatles wie die Beach Boys befanden sich in ihrer grössten Phase.

Aber Brian Wilson entfernte sich immer mehr von der Welt. Seine Experimente und Exzesse waren nicht das Resultat einer wie auch immer gearteten Emanzipation. Wilson mutierte zum eskapistischen, kontextlosen Irren und stopfte alles in sich hinein, was er kriegen konnte. Erst in den Neunzigern kam er wieder auf die Beine, blieb aber nachhaltig beschädigt. In seinen Memoiren „ I Am Brian Wilson“ schrieb er später: „Der Teil von mir, der sich mit Musik beschäftigte, war sehr viel reifer, als es meinem Alter entsprach.“ Er vergass aber hinzuzufügen, dass für den Rest seines Lebens der Teil von ihm, der sich nicht mit Musik beschäftigte, weitaus unreifer blieb, als es seinem Alter entsprach.

J. J. Cale, Devil in Disguise, 1982

Text/Musik/ J. J. Cale

Produzent/ Audie Ashworth, J. J. Cale

Label/ Mercury

J. J. Cale ( 5. Dezember 1938 – 26. Juli 2013)  war ein schweigsamer Typ aus dem Bauernstaat Oklahoma, unrasiert unter dem abgewetzten Hut und in allem schwer zu beeindrucken. Er lebte in einem Wohnwagen, den er in der Nähe von San Diego parkiert hatte. Und er hatte sich mit den Tantiemen von Claptons Version von „After Midnight“ ein Motorrad geleistet, mit dem er tagelang in der Gegend herumfuhr. In seinen späteren Platten gibt es auch eine Frau mit dem evokativen Namen Christine Lakeland in seinem Leben. Sie ist schön wie ihr Name, und abgesehen davon spielt die Lady eine swingende Gitarre und komponiert eigene Songs, ganz im Geist von Jay Jay.

 J. J. Cale steht für eine aussergewöhnliche Musik, die sich vordergründig etwas simpel anhört, aber beim wiederholten Hören immer mehr Feinheiten zeigt. Es braucht Demut, um diesen Sound hinzubekommen. Und auch das ist eine eher seltene Qualität im Musik-Business.

Ike & Tina Turner, Nutbush City Limits, 1973

Text/Musik/ Tina Turner

Produzent/ Ike Turner

Label/ United Artists

Nutbush, Tennessee, ist kein Sehnsuchtsort. Dennoch weiss die Welt, wie es in diesem Ort am Highway 19 ausgesehen hat, als Anna Mae Bullock am 26. November 1939 geboren wurde, Jahrzehnte, bevor sie als Tina Turner zum Popstar wurde. Dort gab es eine Schnapsfabrik, ein Schulhaus, ein Gefängnis, Toilettenhäuschen und eine Kirche, in der dann alle – die Baumwollfeldarbeiter wie die Knastbrüder – am Sonntag zur Predigt erschienen.

Tina Turner sang ihre Erinnerung an den Geburtsort und Ort ihrer Kindheit nicht als Ballade, nicht als Blues, denn mit ihrer unverletzlich wirkenden Stimme musste sie „Nutbush City Limits“ als minimalen, scharfen Rock-’n’-Roll-Song performen und die Nutbush-Raumkoordinaten – „a church house gin house / a school house out house“ – beinahe rausschreien. Der Song ist eine Erinnerung daran, woher Tina Turner stammt. Denn sie, die bis zu ihrem Tod am 24. Mai 2023 in Küsnacht am Zürichsee mit ihrem Ehemann Erwin Bach wohnte, hatte ein „furchtbares Leben gehabt“, wie sie in ihrer Autobiographie schrieb. Dieses furchtbare Leben hing vor allem mit ihrem Mann Ike Turner zusammen, mit dem sie „Nutbush City Limits“ 1973 aufgenommen hatte
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„Er nannte mich „meine Million Dollar“. Er war davon abhängig, dass ich das Geld nach Hause brachte, mit dem er die Rechnungen bezahlte, und deshalb würde er mich nie gehen lassen“, schrieb Tina Turner in ihren Memoiren „I, Tina“, die 1986 veröffentlicht wurden. 1976, drei Jahre nach „Nutbush City Limits“, das zu ihrem letzten gemeinsamen Hit wurde, flüchtete sie vor ihrem Drangsalierer. Denn Ike prügelte und erniedrigte sie, schleppte sie selbst in der Hochzeitsnacht in ein Puff und führte sie bis an den Rand des Suizids. Aber zerstören konnte er den Lebenswillen der Tina Turner nicht.

Jimmy Cliff, Reggae Greats, 1985

Produzent/ Larry Fallon, Leslie Kong, Jimmy Cliff

Label/ Island Records

Bob Dylan bezeichnete „Vietnam“ als einen der besten Protestsongs seiner Zeit. Anstelle von „Vietnam“ liessen sich heute etwa die Wörter Ukraine, Naher Osten oder Sudan einsetzen. Wie alle guten Beispiele dieses widerständigen Genres erzählt auch „Vietnam“ eine exemplarische Geschichte zwischen Hoffnung und Desillusionierung, Ohnmacht und Aufbegehren, allerdings unterlegt mit einem Reggae-Rhythmus, der 1969 noch ziemlich neu in den Ohren klingt.

Seine besten Zeiten hatte Jimmy Cliff in den frühen siebziger Jahren; mit eingängigen und eindrücklichen Aufnahmen wie „Many River To Cross“ und „You Can Get It If You Really Want“ aus seiner Heimat Jamaika eroberte er die britischen Charts und war so (neben Desmond Dekker) der eigentliche Auslöser der ersten Reggae-Welle. Nach dem Erfolg des Reggae-Films „The Harder They Come“ mit Cliff in der Hauptrolle schien alles auf eine Starkarriere hinzulaufen. Aber die nächste Platte brachte nicht den erhofften Durchbruch. Die Plattenfirma Island liess ihn überraschend zugunsten des Rastafari Bob Marley fallen, der gegenüber Cliff den Vorteil besass, den Rhythmus marihuana-kompatibel herunterzufahren und den Typus des selbstbewussten schwarzen Outlaws verkörperte, was das Marketingpotenzial seiner Musik entscheidend erhöhte. Marleys Erfolg überschattete zwar Jimmy Cliffs Werk, dennoch bewies dieser Durchhaltevermögen und er konnte sich über die Jahre hinweg als afrokaribischer Sänger behaupten. Schatten ist auch angenehm, wenn dir die Sonne in Jamaika aufs Hirn brennt.

John Lee Hooker, Tupelo Blues, 1993

Text/Musik/ John Lee Hooker

Produzent/ Roy Rogers

Label/ Point Blank

In dem Song „Tupelo“ deutet John Lee Hooker an, wie die Bevölkerung auf die Katastrophe reagiert. Was die Menschen dabei empfinden, erfährt man nicht, der Blick gleitet aussen ab. Die Katastrophe wird nicht inszeniert, nur zur Kenntnis genommen. Die Handlung scheint von Ergebenheit geprägt; der Erzähler schickt sich ins Unabänderliche. Nur an einer Stelle begehrt er auf, als er die Schreie der Frauen und Kinder hört und Gott um Hilfe ruft. Aber auch hier deutet die Wiederholung an, dass der Sänger sich wieder in der Musik hat fallen lassen. Der Rythmus bedroht ihn nicht; er ist genauso unabwendbar, wie die Ereignisse, die beschrieben werden. Der Blues ist Trost für das, wovon er berichten muss.

Und da ist da noch etwas anderes. In einer Live-Version von „Tupelo“ weist Hooker auf Elvis Presley hin; beschwört die Geburt des Rock’n’Roll, symbolisiert in der Geburt Elvis Presleys, der die Verbindung von Blues und Country nicht nur vollzog, sondern auch damit berühmt wurde.

Hooker zelebriert diese Geburt als Offenbarung; gegen Ende des Songs sagt er mit nachlässiger, aber klar abgehobener Sprechstimme: „There Elvis was born. Elvis Presley. One of the greatest people ever born. The Rock’n’Roll king. That was my home too. Right down in Clarksdale. Dann folgen die letzen Zeilen, wie um den Verweis zu kaschieren: „Tupelo is gone/ Tupelo is gone/ Got destroyed. By the rain and the wind and water“.

Talking Heads, Speaking In Tongues, 1983

Produzent/ Talking Heads

Label/ Sire

„Speaking In Tongues“ ist ganz auffällig: Das Album wurde nicht von Brian Eno produziert. Auch fehlt die grosse Besetzung. Der Kern, die Ur-Besetzung macht die Musik und anders als früher zeichnet David Byrne nicht mehr allein verantwortlich für die Musik. Sondern jeder der Bandmitglieder bringt seine Ideen in die Songs, die er dann zusammenfügt.

„Speaking In Tongues“ hat sehr viel mit dem ersten Talking Heads Album gemein. Es ist die Rückbesinnung auf ihren Ausgangspunkt, ohne aber auf die vorallem mit Eno gemachten Erfahrungen, was Sound und afrikanischen Einfluss betrifft, zu verzichten. Nicht mehr soviel Percussion und dichter Sound, stattdessen kürzere, straffere Songs, in denen neben dem typischen Talking Heads-Funk die Gitarre und Byrne’s Stimme wieder eine grössere Rolle spielen. Er singt nicht mehr so getragen, sphärisch, sondern variationsreicher, in „Swamp“ sogar schon dreckig und in dem Love-Song „This Must Be the Place“ einfühlsam, lyrisch. „Burning Down The House“, das erste Stück, ist ziemlich aggressiv. Nur „Moon Rock“ und „Pull Up The Roots“ sind den beiden Platten davor am nächsten. „Speaking In Tongues“ ist hervorragend. Hier ist auch die musikalische Reise Byrne’s in ethnische Gefilde zu Ende. „Home – is where I want to be, but I guess I’m already there, I come home – she lifted up her wings, guess that must be the place“.

Various, The Inner Flame – A Rainer Ptacek Tribute, 1997

Produzent/ Howe Gelb, Robert Plant

Label/ Atlantic

Der Name Rainer Ptacek – Freunde seiner Musik nannten ihn meist nur Rainer – tauchte erstmals Mitte der 90er in meiner Sammlung auf. Ein Bekannter hatte mir eine Mischkassette zusammengestellt und ziemlich weit hinten die mir bis dahin unbekannte Musik versteckt. Ich recherchierte, fand das wohl beste Album das Rainer je produziert hatte („Worried Spirits“) und stiess auf seine Biographie.

Die Eltern des im Juni 1951 in Ost-Berlin geborenen Rainer flogen mit ihm bereits 1956 nach Chicago. Dort lernte er den Blues lieben, doch bestimmte erst der Umzug nach Tucson/Arizona in den frühen 70ern das, was sich dann musikalisch entwickelte und heute mit Namen wie Giant Sand, Howie Gelb und Calexico verknüpft ist.

Ende der 90er wurde bei ihm eine Gehirntumor diagnostiziert. Das war besonders übel, weil Rainer, der nur von seiner Musik und einem Instrumentenladen lebte, nicht krankenversichert war und die Rechnungen für die teure Theraphie nicht zahlen konnte. So rief sein Freund Robert Plant von Led Zeppelin einige Musiker zusammen, um das Album „The Inner Flame“ einzuspielen. Mit von der Partie waren u.a. Giant Sand, Jimmy Page, Emmylou Harris, Victoria Williams, Vic Chesnutt, PJ Harvey, Madeleine Peyroux und Jonathan Richman. Auf den meisten Stücken dieses Tribute-Albums ist auch Rainer selbst an der Gitarre zu hören. Der gesamte Erlös kam ihm zugute und die Therapie versprach baldige Besserung. Doch der Tumor kam wieder. Am 12. November 1997 musste der erst 46-jährige Rainer Ptacek die Welt verlassen.

Heute weiss kaum noch jemand, dass Rainer Ptacek einer der wichtigsten Bluesgitarristen war, der jemals in der DDR geboren wurde. Sein musikalisches Gesamtwerk erscheint auf kleinen Labels und wird von seiner Witwe verwaltet.

Neko Case, Neon Grey Midnight Green, 2025

Produzent/ Neko Case

Label/ Anti-

„Neon Grey Midnight Green“ ist das achte Album von Neko Case. Ein sehr persönliches Werk, bei dem die mittlerweile 55-jährige jeden Aspekt des Projekts im Griff behielt – sie schrieb nicht nur alle Lieder, sondern produzierte sie auch selbst, und die Aufnahmen erfolgten mehrheitlich in ihrem eigenen Studio. 

Die Songs sind eine Hommage an Freunde und Wegbegleiter, die Case verloren hat. Letzlich markiert das Album einen weiteren Schritt auf dem Gebiet des autobiografischen Schreibens – den ersten machte sie vor zehn Jahren mit „The Worse Things Get…“ Während Case damals noch nach innen blickte, sind die neuen Stücke eher souverän skandierte Charakterstudien und Liebesbekundungen. Trotz Streichern wirken Lieder wie „Little Gears“ oder „Rusty Mountain“ knochentrocken und befreit vom letzten Quäntchen Lieblichkeit. Früher wurde Neko Case oft in die Country-Schublade gesteckt, jetzt klingt sie eher wie eine Sirene, die sich zwischen dem Soundtrack von „Twin Peaks“ und Moritaten im Sinne von Tom Waits zu Hause fühlt – und Komplexes nicht mal mehr ansatzweise scheut. Entstanden sind Songkreationen, die herausfordern und sich als absolut einprägsam erweisen. Respekt.