Ray Davies, Other People’s Lives, 2006

Produzent/ Ray Davies

Label/ V2

Ray Davies, der 1963 die Kinks gründete und mit Songs wie „Sunny Afternoon“ sowie sozial-satirischen Konzept-Alben wie „The Village Green Preservation Society“ Klassiker der Popmusik schrieb, dieser brillante Chronist des britischen Kleinbürgerlebens, wurde im Juni 2025 einundachtzig Jahre alt. Auf seinem ersten Soloalbum „Other People’s Lives“ aus dem Jahre 2006 demonstriert er, was den Meister ausmacht: Ausgereiftes, mit leichter Hand serviertes Handwerk und Charisma. Viel Autobiografisches sei in die Songs eingeflossen, liess er verlauten – seine Erfahrungen mit dem „American Way of Life“ zu Beispiel.

Begleitet von seiner Liveband, die einen frischen Britpop spielt, klingt Davies zeitgemäss und doch klassisch. Mit seiner unverkennbaren, leicht näselnden Stimme geisselt er abgefuckte Dritte-Welt-Touristen, gibt den Misanthropen oder lästert über miese Komiker. „All She Wrote“ und „Creatures Of Little Faith“ schildern kaputte Beziehungen. Auch „After The Fall“ strotzt vor Pessimismus. „Next Door Neighbour“ grenzt an Selbstparodie (die privaten Disaster von Mr. Brown und Mr. Smith werden genüsslich in Kinks Manier zitiert). Ein schönes Alben, das mir ans Herz gewachsen ist.

The Kinks, Waterloo Sunset, 1967

Text/Musik/ Ray Davies

Produzent/ Ray Davies, Shel Talmy

Label/ Pye Records

Die Gegend um Waterloo war für Ray Davies persönlich von grosser Bedeutung. Als kleiner Junge lag er einmal wegen Tracheotomie im dortigen St. Thomas Hospital, und die Schwestern schoben ihn auf den Krankenhausbalkon, von wo aus er auf die Themse blicken konnte, den „dirty old river“ im Song. Auch als Kunststudent, auf dem Weg zur Croydon Art School, war Davies täglich durch Waterloo gekommen.

Der Song erzählt, wie ein einsamer Aussenseiter ein Paar beobachtet, das sich am Bahnhof Waterloo trifft und, in traute Gespräche vertieft, über die Waterloo Bridge weiter Richtung Nord-London geht. Die Beobachtung des Sonnenuntergangs über der Themse und der kleinen Liebesaffäre, die sich dort unten abspielt, bereiten dem Ich das Gefühl, im Paradies zu sein. Beteiligung, körperliche Präsenz macht ihm Angst, kühle Winde drohen.

Der wehmütige Sänger („But I don’t need no friends“) tröstet sich mit der Schönheit des Sonnenuntergangs über der Londoner Skyline. Diese Perspektive ist auch ein Element der Eroberung der Stadt durch neue jugendliche Subjektivitäten, wie sie in den 1960er Jahren imaginär und real stattfand. Die Stadt als unendlicher Möglichkeitsraum bleibt nur als Potenzial unendlich gross, die mit ihm verbundene Angst ist nicht nur die vor der Überwältigung, die man überwinden kann, indem man in eigener Regie high wird, sich seine Überwältigung selbst organisiert, sondern auch die Angst, dieser sich öffnende Stadtraum könne sich verengen, wenn man mit ihm anders als durch Überblicke Kontakt aufnimmt. Das Bekenntnis, keine Freunde zu brauchen, ist auch das Wissen des Dandys, dass mit anwesenden Freunden nichts schöner wird, das schon durch die Beobachtung von Menschen schön ist.

„Waterloo Sunset“ aus dem Sommer 1967 ist eine von Ray Davies gelungensten Kompositionen. Ein schönes, melancholisches, warmes Bild von London im Dämmerlicht.

The Kinks, Harry Rag, 1967

Text/Musik/ Ray Davies

Produzent/ Shel Talmy

Label/ Pye Records


„Something Else“ ist ein elegantes Album über zivilisierte, normale Belange, die alle Klassen durchziehen. Es klingt unwesentlich, wird aber stillschweigend tiefgreifend. Das letzte Mal, als ich es mir anhörte, war mein Lieblingslied nicht „Waterloo Sunset“, sondern „Harry Rag“. Betitelt nach einem Slang-Wort für Zigaretten, handelt es von den erbaulichen Freuden des Rauchens: die eingefallene alte Frau, die bald ihren letzten Atemzug tun wird und sich für das Leben verflucht, das sie geführt hat, sich eine Zigarette dreht und dann ins Bett legt, und der Typ, der sich vom letzten Penny, den ihm das Finanzamt lässt, die verlockenden Glimmstängel kauft.

Die erkennbare Freude an diesem törichten Genuss erreicht ihren Höhepunkt in Zeilen wie: „Ah, the smart young ladies of the land can’t relax without a harry in their hand“ und „they boast and brag, so content because they’ve got a harry rag“. Man kann sie sich vorstellen, wie sie die Zigarette zwischen den Fingern halten und gekünstelt daran ziehen. Ray Davies hört sich wie ein rustikaler Folksänger an, und die Band spielt wie auf einer Music-Hall-Tanzparty, was fast ein zu grosser Rahmen wäre; sie könnten auch in einem Pub auf der kleinen Bühne stehen. „Bingo!“, quietscht Dave Davies auf dem Fade-out, ausser sich vor Freude.

Dave Davies, Death of a Clown, 1967

Text/Musik/ Dave Davies

Produzent/ Dave Davies, Ray Davies

Label/ PYE

Dass Dave Davies von den Kinks auch ein begabter Songschreiber war, das beweist sein herrlich trauriger Hit „Death of a Clown“. Leider war da die notorischerweise diffizile Beziehung zu seinem Bruder Ray. Der spielte sich als Egomane auf, komponierte alle Songs und hielt auch die geschäftlichen Fäden in seinen Händen. Bei seinen Eltern zu Besuch, setzte sich der junge Dave schon etwas angetrunken ans Klavier und stimmte ein spontanes Lied an. „Let’s all drink to a death of a clown“. Wenige Augenblicke später wurde ihm plötzlich bewusst, dass er gerade einen Hit geschrieben hatte. Er beschloss, seinem Bruder eins auszuwischen und veröffentlichte den Song als Solosingle. „Death of a Clown“ wurde ein Hit – und für Dave Davies ein kurzes Intermezzo als Solokünstler.

In in dem Lied geht es nicht nur um den Tod eines Clowns, sondern um den Niedergang einer ganzen Zirkuskultur, die durchaus Symbolcharakter für das Leben im Allgemeinen hat. Der alte Wahrsager liegt tot auf dem Boden, es gibt sowieso niemanden mehr, der sich wahrsagen lassen will. Und selbst die minimalste Form des Zirkuslebens, der Flohzirkus, ist zum Scheitern verurteilt. Der Insektendompteur kriecht auf den Knien herum und sucht wie wild nach entfleuchten Flöhen. In diesem Sinne: „Let’s all drink to the death of the Clown“ – Dave Davies war gerade mal 20 Jahre alt, als der Song ein Hit wurde, vielleicht hat sich inzwischen jemand gefunden, der ihm geholfen hat „to break up this crown“, d.h. den Kronkorken von der Flasche zu kriegen.

The Kinks, Greatest Hits!, 1966

Producer/ Shel Talmy

Label/ Reprise

Es soll Leute geben, die von den Kinks nur „Lola“, „Waterloo Sunset“ oder „Apeman“ kennen. Diesen Armen hilft diese Oldie-Ausgrabung ganz entscheidend. Auf dem Album sind alle Hämmer von Ray Davies, bis „Lola“ (als Bonustrack) enthalten. Meisterwerke der Popmusik von einem ihrer Grössten. Was für eine Pfeife ist so ein Neurockstar wie Machine Gun Kelly verglichen mit Townshend, Lennon und Ray Davies. „All Day And All Of The Night“, „A Well Respected Man“, „Sunny Afternoon“, „You Really Got Me“, „Dedicated Follower Of Fashion“ und und und. Es macht heute genauso Spass, sich diese Songs anzuhören wie damals.

The Kinks, Sunny Afternoon, 1966

Text/Musik / Ray Davies

Produzent/ Shel Talmy

Label/ Pye

Wie so viele Songs aus der Zeit zwischen 1966 und 1968 schien „Sunny Afternoon“ den Geist des Wandels zu verkörpern, der damals die USA und Europa durchströmte. „Tune in, turn on, and drop out“, lautete das Motto der Gegenkultur, und immer mehr Menschen begriffen, dass man nicht zum Mainstream gehören musste. Auch die Beatles rieten ihren Fans 1966, sich zu entspannen, die Gedanken auszuschalten und sich flussabwärts treiben zu lassen. Die Kinks jedoch waren vor ihnen da.

Musikalisch und textlich war der Song eine Offenbarung. Der Schritt zurück, den Songwriter Ray Davies damit wagte (zurück in die verrückte Music-Hall-Zeit seiner Jugend), statt die progressive Richtung weiterzuverfolgen, in die die früheren Hits der Band zu weisen schienen, erwies sich im nachhinein als genial. Hinter der warmen, lakonischen Weichheit der Aufnahme verbergen sich kluge Köpfe – eine Beobachtung, die, mal wieder auch auf die Beatles zutrifft, die im Jahr darauf ihre eigene Music-Hall-Hommage, „Being for the Benefit of Mr. Kite“, aufnahmen.

The Kinks, Low Budget, 1979

Produzent/ Ray Davies

Label/ Arista

Eine gute Platte. Einzig hervorzuheben an „Low Budget“ scheint mir das Mass an Bosheit, mit dem Ray Davies zum Rundschlag seiner Gesellschaftskritik ausholt. Als bösartiger Satyr, mit peitschendem Schweif lässt er nichts ungeschoren – seine Ironie ist ätzend-beissend. Lieder, die mit nettem oder beschaulichen Inhalt in Pop-Regionen abdriften, fehlen ganz. Die Musik ist derart hart und kantig, dass man die Kinks allein an Rays signifikanter Stimme erkennen kann. Lediglich „(Wish I Could Fly Like) Superman“ lässt Raum zum Schmunzeln: ein Disco-Imitat mit bumpernder Basstrommel, versteckten Bee Gees-Zitaten und einer bohrenden Spitze auf Hollywoods Protzprodukte. In „Catch Me Now I’m Falling“ fleht „Capitan America“ um Rückenstärkung, hintergründig äfft ein Engelschor „Falling, Falling!“, in „A Gallon Of Gas“ nimmt Ray die sogenannte Benzinkrise aufs Korn frei nach dem Motto: Endlich ist das langbestellte Auto da, aber es gibt keinen Tropfen Benzin mehr.

Die Geschichte vom Geld, das hinten und vorne nicht langt, singt Ray Davies im Titelsong „Low Budget“ wie immer bei seinen Kleinbürgersongs so glaubwürdig, dass man ihm die Story fast als seine eigene abkauft. Wer intelligente Rockmusik mit guten Texten mag, ist mit diesem Kinks-Album bestens bedient.

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The Kinks, Dead End Street, 1966

Text/Musik/ Ray Davies

Produzent/ Shel Talmy

Label/ Pye

Nach den Beatles waren es immer die Kinks, die unter den grossen britischen Bands der 1960er Jahre Soundexperimente wagten. In Ray Davies hatten sie zudem einer der profiliertesten Songschreiber ihrer Generation. Ohne seine Worte oder Themen zu verwässern, gelang es Davies, den Mittelweg zwischen McCartneys Sentimentalität und Lennons Zynismus zu gehen. „Dead End Street“, ein Song über Armut, weckt Mitgefühl, ohne zu bevormunden, bringt Wut zum Ausdruck, ohne verbittert zu sein.

Das Genie verbirgt sich im Detail, wenn Davies in vier kurzen, brillanten Zeilen die Szenerie beschreibt: Durch die Decke verläuft ein Riss, der Abfluss in der Küche ist undicht, keine Arbeit, kein Geld, und auch am Sonntag gibt’s nur Brot und Honig. Für den Erzähler fehlt es den „Sixties“ entschieden an „Swing“. Der Sound des Songs ist höchst eigentümlich. Die klagende Trompete stützt die Melodie, es gibt plötzliche Rhythmuswechsel und ein geschriener Backgroundchor hilft über die Gefühle von Hochmut und Verzweiflung hinweg. Die Kinks-Kollegen Dave Davies und Pete Quaife nannten „Dead End Street“ einen der drei besten Songs, die Ray je geschrieben hat. Sein Einfluss – fröhliche Melodie begleitet trostlose Geschichte – ist in britischen Bands wie Madness und The Smiths zu hören, allesamt englische Essayisten.