Neil Young, Harvest Moon, 1992

Produzent/ Neil Young, Ben Keith

Label/ Reprise

Zwanzig Jahre nach seinem Klassiker „Harvest“ setzt Neil Young sich selbst ein Erinnerungsdenkmal und veröffentlicht mit „Harvest Moon“ eine musikalische Fortsetzung im Outfit von 1992. Seine Band, die Stray Gators, besteht aus den Originalmitgliedern von 1972, also aus Kenny Buttrey, Tim Drummond und Ben Keith, sowie den Originalbackground-SängerInnen Linda Ronstadt, James Taylor, Nicolette Larson und Astrid Young.

Young weicht vom elektrischen Kurs seiner letzten Alben ab und setzt auf leise, behutsame Country/Folk-Töne. Einfach schön, relaxt und mit einem Hauch von Nostalgie weht „Harvest Moon“ herüber und hinterfragt dennoch in seinen Texten die Zukunft des Rock’n’Roll. Wer Neil Young über die Jahre hinweg verfolgt hat, weiss, dass er kein hoffnungsloser Nostalgiker ist und sich – wenn es sein muss – rigoros und kompromisslos gegen jegliche Trends und Zeiterscheinungen zur Wehr setzen weiss. Musikalisch ist „Harvest Moon“ sicherlich ein wichtiges Album in seiner langen Karriere, wenngleich mir einige Songs etwas dem Original zu ähnlich klingen. Young kopiert Young, aber der Mann ist sowieso musikalisch unberechenbar. Musikalischer Schlusspunkt: das zehnminütige „Natural Beauty“ in einer Live-Akustikversion; es ist ein Song über den Verlust des natürlichen Schönheitsgefühls, das man sich zurückerkämpfen muss, indem man wieder mehr auf sich selbst hört. Und das lernt man nur, wenn man sich vorher umgehört hat. Dann erkennt man auch, wie wichtig es ist, unsere immer bedrohtere Natur zu erhalten.

Robert Plant, Saving Grace, 2025

Produzent/ Robert Plant, Saving Grace

Label/ Nonesuch

Von Robert Plant darf man immer das Unerwartete erwarten. Diese Erkenntnis hat sich seit der Auflösung von Led Zeppelin vor mittlerweile 45 Jahren immer wieder bestätigt. Und das tut das einmal mehr beim Erscheinen von Plants Album „Saving Grace“ im September 2025. Der heute 77-Brite hat auf diesem Album völlig unbekannte Musikerinnen und Musiker um sich geschart, und feiert eine Heimkehr zu seinen Wurzeln in der Folk-Musik. Der Blues von Willie Dixon, Howlin’ Wolf und Muddy Waters, den Led Zeppelin zum stadiontauglichen Balzgesang erhoben, war immer nur eine von vielen Farben auf Plants Stilpalette.

Heute lebt Robert Plant wieder unweit der walisischen Grenze, wo er seine Jugend verbrachte. „Saving Grace“ ist eine Spätfolge der Rückkehr nach Grossbritannien. Plant lernte den Gitarristen und Banjospieler Matt Worley in seinem Lieblingspub kennen. Zusammen entwickelten sie das Projekt „Saving Grace“ mit Musikern und Musikerinnen aus der lokalen Folk-Szene. Auf dem Album gibt es ein vielschichtiges Zusammenspiel der Band und ihr Repertoire ist sorgfältig ausgewählt. So klingt das Ganze archaisch und doch anregend. Wollte man ein paar Lieder herauspicken, dann stehen „Everybody’s Song“ oder die Bluegrass-Nummer „Higher Rock“ mit der grossartigen Sängerin Suzi Dian und das psychedelisch -rockige „Too Far From You“ im Mittelpunkt. Blind Willie Johnsons „The Soul of a Man“ wird von Matt Worley gesungen. Bei Saving Grace spielt Robert Plant, der schon lange kein Frontmann mehr sein will, nur eine Nebenrolle. Wer weiss, wieviel Repertoire Saving Grace sei ihres Bestehens schon eingespielt und wieder verworfen haben? An potenziellem Material mangelt es der Band beileibe nicht. Von Robert Plant darf man also weiterhin das Unerwartete erwarten. Eines ist allerdings sicher: Eine Wiedervereinigung von Led Zeppelin wird es nicht geben.

Led Zeppelin, When The Levee Breaks, 1971

Text/Musik/ Memphis Minnie, Led Zeppelin

Produzent/ Jimmy Page

Label/ Atlantic

Das Beste von John Bonham? Schwierige Frage, aber lasst mich an dieser Stelle den Anfangsgroove von „When The Levee Breaks“ nominieren. Tschock-tschock-bam, tschock-tschock-bam, tschock-tschock-bam, tschock-tschock-bam-tschock. Simpel schnörkellos, perfekt. 4/4 zum Schwärmen oder vielleicht besser zum Lufttrommeln. Plant und Page dürfen um den Takt herum spielen, wohlwissend, dass der mächtige Bonzo mit seinen überdimensionierten Schlagstöcken sie immer wieder ein- bzw. auffangen wird. Nur deswegen darf dieser Song eine Länge von über sieben Minuten haben.

Vieles, was über Bonham und Led Zeppelin überhaupt geschrieben worden ist, hat mit Lautstärke zu tun. Bonzo spielte aber nicht nur hart, sondern heavy und sexy, und er ist einer der Gründe, warum Led Zeppelin heutezutage viel aktueller klingen als z.B. Metallica. Man liest auch viel über Bonhams Trinkgewohnheiten und sein jähes Ende. Die Meinungen gehen auseinander, ob Bonzo der liebste Kerl der Welt oder ein gewalttätiges, versoffenes Arschloch war. Darüber habe ich keine Meinung und ehrlich gesagt interessiert mich die Frage überhaupt nicht. Ich nahm ihn nur als Musiker wahr, auf den Platten, die mich in meiner Jugend begleiteten. Die zählen nach wie vor zu meinen Favoriten. John Bonham war nicht nur Schlagzeuger bei Led Zeppelin, er war der einzige Schlagzeuger, den es bei Led Zeppelin hätte geben können.

The Rolling Stones, Emotional Rescue, 1980

Produzent/ The Glimmer Twins

Label/ Rolling Stones

Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Kunstwerke sind nur dann wirklich von Interesse, wenn sie Widersprüche ausdrücken, ausleben, reflektieren, in sich tragen. „Some Girls“ war grossartig: nicht nur wegen so exzellenten Songs wie „Shattered“, sondern weil das ganze Album Rolle, Funktion und Tradition der Stones in ihrer und unserer Gegenwart diskutierte.

„Emotional Rescue“ schliesst nahtlos an „Some Girls“ an. Drei der zehn Songs erinnern an „Angie“ oder „Wild Horses“-Zeiten, nicht ganz so überragend, aber immer noch gut für ein warmes Rieseln auf dem Rücken, und das will schon was heissen. Mir gefallen „Send It To Me“ und „She’s So Cold“ am besten, auch wenn gewisse Leute diese Phrase vielleicht abgeschmackt finden. Doch Jet Set, Jerry Hall und die Pariser Nächte müssen für Jagger und Richards eine Inspiration gewesen sein. Aus jedem Song grunzt einem eine saturierte, grienende Lebensfreude von Leute entgegen, denen es an nichts fehlt und die sich soweit vom Gefühl des Mangels und des Selbstzweifels entfernt haben, dass der Unterschied zu einem Paul McCartney nur noch im Material liegt. Immerhin bleiben die Stones selbstironisch und lassen zu, dass man ihnen in die Karten schauen kann.

T. Rex, Electric Warrior, 1971

Produzent/ Tony Visconti

Label/ Fly

Slade ging ja noch durch, ebenso Status Quo, aber T. Rex? Niemals. Wenn man ein ernsthafter junger Mann sein wollte, durfte man T. Rex nicht mögen. Da lauerte Gefahr in dieser Musik, in ihrer Effeminiertheit, ihren Teenage-Appeal, ihrem Rhythmus, in der Stimme Marc Bolans, im endlosen Strom von Hitsingles wie „Get It On“, „Hot Love“, „Children Of The Revolution“. Diesen Mutanten-Boogie im Hinterkopf hören, den Lockenkopf sehen, Kayalaugen, Geschichten von Feen und Autos und Feuersalamandern und weissen Einhörnern. Marc Bolan, das kleine Szenen-Arschloch hatte den Mut und das Talent, aus Illusionen und Halbwissen und minimaler Musik den grossen Teenager-Pop zu basteln, bevor er sich im September 1977 von seiner zweiten Frau Gloria Jones an einen Baum fahren liess, dreissig Jahre alt.

Nein, T. Rex habe ich damals nicht gemocht, aber heute darf ich sagen, Marc Bolan war vielleicht peinlich und schlecht, aber immer wenn ich zufällig einen Song von T. Rex im Radio höre, ist es ein schöner Tag. Deshalb möchte ich hier „Electric Warrior“ auflegen. Das kann natürlich nur ein Sonnentag, ein Tag für Trolle und Heinzelmännchen und kleine Nymphchen sein.

The Kinks, Waterloo Sunset, 1967

Text/Musik/ Ray Davies

Produzent/ Ray Davies, Shel Talmy

Label/ Pye Records

Die Gegend um Waterloo war für Ray Davies persönlich von grosser Bedeutung. Als kleiner Junge lag er einmal wegen Tracheotomie im dortigen St. Thomas Hospital, und die Schwestern schoben ihn auf den Krankenhausbalkon, von wo aus er auf die Themse blicken konnte, den „dirty old river“ im Song. Auch als Kunststudent, auf dem Weg zur Croydon Art School, war Davies täglich durch Waterloo gekommen.

Der Song erzählt, wie ein einsamer Aussenseiter ein Paar beobachtet, das sich am Bahnhof Waterloo trifft und, in traute Gespräche vertieft, über die Waterloo Bridge weiter Richtung Nord-London geht. Die Beobachtung des Sonnenuntergangs über der Themse und der kleinen Liebesaffäre, die sich dort unten abspielt, bereiten dem Ich das Gefühl, im Paradies zu sein. Beteiligung, körperliche Präsenz macht ihm Angst, kühle Winde drohen.

Der wehmütige Sänger („But I don’t need no friends“) tröstet sich mit der Schönheit des Sonnenuntergangs über der Londoner Skyline. Diese Perspektive ist auch ein Element der Eroberung der Stadt durch neue jugendliche Subjektivitäten, wie sie in den 1960er Jahren imaginär und real stattfand. Die Stadt als unendlicher Möglichkeitsraum bleibt nur als Potenzial unendlich gross, die mit ihm verbundene Angst ist nicht nur die vor der Überwältigung, die man überwinden kann, indem man in eigener Regie high wird, sich seine Überwältigung selbst organisiert, sondern auch die Angst, dieser sich öffnende Stadtraum könne sich verengen, wenn man mit ihm anders als durch Überblicke Kontakt aufnimmt. Das Bekenntnis, keine Freunde zu brauchen, ist auch das Wissen des Dandys, dass mit anwesenden Freunden nichts schöner wird, das schon durch die Beobachtung von Menschen schön ist.

„Waterloo Sunset“ aus dem Sommer 1967 ist eine von Ray Davies gelungensten Kompositionen. Ein schönes, melancholisches, warmes Bild von London im Dämmerlicht.

Sleater-Kinney, The Woods, 2004

Produzent/ Dave Fridman

Label/ Sub Pop

Okay, sie sind lesbisch und unverschämt und laut, aber das waren Phranc, das sind L7 auch. Was macht eine Frauenband aus. Hat diese Bezeichnung eigentlich irgendeinen Wert? Gibt es so etwas wie Frauenbands überhaupt? Was macht eine Band, was macht Sleater-Kinney zu einer Frauenband oder nicht? Hoseninhalte? Songinhalte? Genderpolitisches Engagement? Sexuelle Präferenz? Eine komplexe Frage, der beizukommen hier wohl kaum genug Platz ist.

Wenden wir uns also stattdessen dem löchrigen Boden der Tatsachen zu. Und der zeigt, dass Carrie Brownstein, Corin Tucker und Janet Weiss songschreiberisch von überlegener intelligenz und Verschlagenheit sind, dass sie auch auf ihrem Album „The Woods“ relevante Themen verhandeln, die von Konsumkritik bis Liebe und Rollenverständnis reichen. Die Musik ist schnell, aber nicht überschnell, laut einfach. Dick wattierten Gitarrenparkas, sich abwechselnden und komplettierenden Stimmen, solidem, häufig auch gegenläufigem Bass und einem druckvollen, entfesselten Schlagzeug, das gleichsam ballern und tappen kann. Kurz: Sleater-Kinney machen intelligente und inspirierte Musik. Von Frauen. Für alle. Punkt.

Tom Waits, Blue Valentine, 1978

Produzent/ Bones Howe

Label/ Asylum


Obwohl Tom Waits auf „Blue Valentine“ das Image des kaputten Nachtschwärmers weiter kultivierte, das er eigentlich abstreifen wollte, enthielt dieses Album seine bis anhin spannendste Musik. Manche der von Jazz-Produzent Bones Howe meisterhaft inszenierten Songs nahmen gespenstische Klangfarben und Stimmungen vorweg, die Waits später berühmt machen sollten. Und dann diese Reibeisenstimme! Wie sie bellt und röchelt. Hier spielt sich nahezu alles in der Nacht ab. Im Schein der Neonreklame. Im Zwielicht. Wie der Teenager-Selbstmord in „A Sweet Little Bullet from a Pretty Blue Gun“. Oder in der Einsamkeit. „Christmas Card from a Hooker in Minneapolis», den Monolog einer verbitterten Frau, wirft uns Waits in überwältigender Weise vor die Füsse.

„Whistlin’ Past the Graveyard“ ist die erste von zwei starken Nummern, die mit Sessionmusikern aus New Orleans entstanden. Swamp-Funk. Auf „Sweet Little Bullet“ klingt Waits fast wie Dr. John, dazu ertönt das Sax des früheren Fats-Domino-Begleiters Herbert Hardesty. Die lebendigen Details aus „Kentucky Avenue“ könnten aus Tom Waits’ eigener Kindheit stammen. Noch anrührender ist die Jazzballade „Blue Valentine“. Deren Protagonist weiss, dass er nicht mit dem Unrecht fertig werden kann, das er anderen zugefügt hat.

The Temptations, Papa Was A Rollin‘ Stone, 1972

Text/Musik/ Norman Whitfield, Barrett Strong

Produzent/ Norman Whitfield

Label/ Gordy

Ohne einen Vater, der sich zumindest ab und zu mal zeigt, natürlich auch kein Konflikt mit dem Sohn oder der Tochter. Der Erzeuger, den die grossartigen Whitfield und Strong in dem Lied „Papa Was A Rolling Stone“ als Herumtreiber beschreiben, hat sich dagegen gleich ganz aus dem Staub gemacht. Erst nach seinem Tod erfährt der Sohn, das der Vater ein rastloser Herumtreiber – wahrscheinlich ein Dieb und Säufer – war, der nie Kohle hatte, dafür aber noch drei weitere aussereheliche Kinder gezeugt haben soll. Auch bei seiner Mutter findet der Sohn keinen Trost – sie kann die Gerüchte nur bestätigen.

Das Stück beginnt mit einer langen instrumentalen Einleitung, ein grossartiges Beispiel des Motown-Sounds auf der Höhe seines Erfolg. Die Gitarre von „Wha Wha“ Watson, die Streicher, die eine melancholische Melodie spielen, und eine Trompete, die über der Hi-Hat-Basstimme zu improvisieren scheint. Und wenn man schliesslich schon nicht mehr daran glaubt, setzt die Baritonstimme von Dennis Edwards ein und nagelt einen am Stuhl fest. Der Song ist reinste Dramaturgie, zugleich aber auch Bericht einer sozialen Tragödie, die Tausende von Jungen und Mädchen tagtäglich erleben: Die Anne E. Casey Foundation, die sich für die Zukunft benachteiligter Kinder in den USA einsetzt, hat 2021 Daten herausgegeben, nach denen fast 70 Prozent der afroamerikanischen Kinder mit nur einem Elternteil leben.

Bruce Springsteen, Tracks II: The Lost Albums, 2025

Produzent/ Bruce Springsteen, Ron Aniello, Jon Landau, Chuck Plotkin

Label/ Columbia

Obwohl physische Tonträger heute so gut wie obsolet sind, werfen viele der grossen Namen weiterhin Zusammenstellungen mit rarem oder unveröffentlichem Songmaterial auf den Markt. Auch der Unermüdliche, den seine Fans „The Boss“ nennen, kommt noch einmal mit einem voluminösen Set. Neben einer Scheibe mit Outtakes gibt es sechs komplette Albums, die noch nie veröffentlicht wurden. Während etwa das Album „L.A. Garage Sessions 83’“ ein Verbindungsstück zwischen „Nebraska“ und „Born in the USA“ ist, zeigt „Streets of Philadelphia Sessions“, dass Springsteen um diesen Song eine ganze Kollektion von Liedern in ähnlicher Instrumentierung – Synthesizer und Schlagzeugmaschine – parat gehabt hätte. Dunkelgrau, schraffiert und textlich düster, also bestens zu jener Zeit passend. Weitere Werke, die hier zugänglich gemacht werden, sind der Soundtrack zum nie gedrehten Western „Faithless“ oder das in der musikalischen Mythologie des südkalifornischen Grenzgebiet angesiedelte „Inyo“.

Auch wenn „Tracks II“ nicht immer überzeugt, öffnet es doch die Pforten zu einem Springsteen-Paralleluniversum, dessen Existenz natürlich auf dem grossen Erfolg der regulären Alben basiert, die es ihm ermöglichten, ohne finanziellen Druck seinen Ideen nachzugehen. Und wer will, kann auf „Tracks III“ warten, die der „Boss“ bereits angekündigt hat.