Joan Armatrading, Into the Blues, 2007

Produzent/ Joan Armatrading

Label/ Hypertension

„All the way from America“ kam die 1950 geborene Joan Armatrading als Kind von den Westindischen Inseln nach Grossbritannien. Mit sieben spielte sie auf dem Klavier ihrer Mutter, ihre erste Gitarre kostete drei Pfund, sie brachte sich das Spielen selbst bei und komponierte ihre ersten eigenen Songs, als sie 14 war. Seitdem hat sie die Gitarre praktisch nicht mehr aus der Hand gelegt. Zweiundzwanzig Studioalben hat sie bis heute veröffentlicht. Ihr stilistisch zwischen R&B, Jazz, Folk und Pop pendelndes Werk („Love And Affection“, „Show Some Emotion“ usw.) hat jüngere Singer/Songwriterinnen wie Tracy Chapman, Alanis Morissette oder Macy Gray inspiriert.

Vier Jahre hat sich Armatrading Zeit gelassen, um ihr Studioalbum „Into the Blues“ aufzunehmen. Ein Bluesalbum? Mehr als das. Joan Armatrading zeigt hier, dass sich ihre Kreativität auch nach einer mehr als dreissgjährigen Karriere nicht abgenutzt hat. Mit Blues-Gitarre, Klavier und Mundharmonika taucht sie tief in die Welt des Blues ein, verknüpft ihn rau, leidenschaftlich, abwechslungsreich mit Soul, Pop und Gospel. Vielleicht kann man solchermassen entspannte, durchdachte und dennoch zutiefst emotionale Musik tatsächlich erst machen, wenn man einen gewissen Schatz an Lebenserfahrung gewonnen hat – „Into the Blues“ kann daher nicht das Album einer 20-Jährigen sein. Die Frau verfügt immer noch über eine phänomenale Stimme. Und sie schreibt tolle Songs. 13 Eigenkompositionen enthält die Platte, auf welcher Joan sämtliche Instrumente spielt ausser Schlagzeug. Von der Stimmung her klingt das Ganze überraschend leichtfüssig; trotz der paar nachdenklichen Balladen. Aber noch eine letzte Bemerkung zum Blues auf der Platte: Er liegt definitiv näher bei RL Burnside als bei Robert Cray direkt und ungekünstelt. 

Tom Waits, Downtown Train, 1985

Text/Musik/ Tom Waits

Produzent/ Tom Waits

Label/ Island

Der Song „Downtown Train“ ist aus dem Album „Rain Dogs“. Er schildert die überfüllten U-Bahnen, in denen all diese Brooklyn-Girls sitzen, die in Manhattan arbeiten oder dort Arbeit suchen, um aus ihren kleinen Welten auszubrechen. Aber natürlich ist damit auch eine offensichtlich unerfüllte Liebesgeschichte verbunden: Der Erzähler hat sich eines der Mädchen ausgeguckt, sich offensichtlich verliebt, hat sie auch verfolgt, kennt ihr Fenster und ihren Treppenaufgang, läuft ihre Strasse runter, an ihrer Haustüre vorbei und bleibt an der Ampel stehen. Und natürlich hofft er, sie wieder in der U-Bahn zu sehen, auch wenn er wie jede Nacht einsam zurückbleibt: „Will I see you tonight on a downtown train/ Every night, every night it’s just the same/ You leave me lonely.“

Das Lied ist bei Tom Waits eine musikalische Miniatur, die er in seinem unnachahmlich knurrenden Gesang vorträgt, ein Lied, das wüst und rumpelig arrangiert ist und dessen Melodie mehr zu erahnen, als zu hören ist. Das Hitpotential des Songs erkannte Rod Stewart, der mit seiner Version weltweit in den Charts landete.

The Roches, Keep On Doing, 1982

Produzent/ Robert Fripp

Label/ Warner Bros.

Auf ihrem dritten Album sind die Roches deutlich reifer, erwachsener geworden. Es gib eigentlich nur ein skurriles Stück „The Largest Elizabeth in the World“, niemand quäkt oder gröhlt mehr querbeet, und plötzlich jubilieren Suzzy, Terre und Maggie ein übers andere Mal „I Fell in Love“ mit Engelsstimmen, anstatt wie früher ihren Liebhabern hinter deren Rücken freche Grimassen zu schneiden. Man merkt, dass sich die drei Schwestern viel Gedanken über ihr Tun und Treiben machen („I wish there was a true love, I wish there was a great art, I wish there was always enough, But I’d not want if I were smart“), ihr Produzent Robert Fripp hat sie dabei musikalisch und vermutlich auch moralisch kräftig unterstützt.

Maggie spielt ein wenig auf dem Synthesizer, Terre greift auch mal zur E-Gitarre und Fripp steuert wirklich gelungene Raumschiff-Klänge mit seinen „Devices“ bei. Ansonsten ist alles beim Alten und Guten geblieben: die Roches singen wunderschöne Lieder, fangen ihr Album sogar mit Händels „Hallelujah“ an (derb-amerikanisch und doch respektvoll) und passen mit ihrer Musik hervorragend in graue Regen-Nachmittage, an denen man am liebsten zu Hause bleiben möchte. Oder wenn einer in den Gesangsverein latscht, wegen der Geselligkeit: „You have serious taste. You make me sob.“

Madness, Full House (The Very Best Of Madness), 2017

Produzent/ Charlie Andrew, Clive Langer u.a.

Label/ Union Square Music

Was gibt es noch von über Madness zu sagen, was nicht schon hundertmal gesagt wäre? Madness sind Burschen. Nichts besonderes. So, wie bei dir in der Nachbarschaft (selbst wenn du nicht in England lebst). Madness sind natürlich typisch englisch: entspannt, versponnen, verspielt. Eben die typische Überlegenheit der englischen Rasse.

Wenn du Madness noch nicht kennst, hörst du dir am besten „Full House“ an, das ist sowas wie ihre Greatest Hits. Da gibt es ein paar eingängige und einfallsreiche Songs. Pop/Beat aus den Swinging Sixties. Auch den Rest kannst du gut (mehr oder weniger gut) gebrauchen. An Abenden, an denen schon geheizt werden muss, bei englischem Kuchen, Drops, Komödien oder Sport im Fernsehen, Spielen zu zweit, Augsburger Puppenkiste, John, Paul, George und Ringo, Marty Feldman, Michael Caine, Harold Wilson, Graham Greene, Miss Marple, Julie Christie, Alan Silitoe, Lewis Carrol, Laurel & Hardy.

Madness machten Ende der 70er und Anfang der 80er ein paar geniale Pop-Platten. Madness ist aber auch für die Zeit danach. Wenn Madness nachdenken, brauchst du nicht mitzudenken. Wenn sie es mit ihren Verrücktheiten übertreiben und in alberne Spielereien ausarten (auf der Hälfte dieses Albums), kannst du dich beruhigt zurücklehnen und schmunzeln: „Oh ja, sie spinnen manchmal diese Engländer, aber man muss sie mögen.“

Passport, Doldinger Jubilee Concert, 1974

Produzent/ Andy Johns

Label/ Atlantic Records

Als ich Anfang der 70er Jahre zum ersten Mal etwas von der Gruppe Passport hörte, war ich fasziniert. Ich kaufte mir damals die Platte „Hand Made“ und war begeistert von vorne bis hinten, diese Musik pustete bei mir das ganze Gedudel abgeschlaffter Rock-Grössen wie Deep Purple aus den Ohren. Auch heute finde ich „Hand Made“ traumhaft schön. Die Rhythmusgruppe spielt lebendig, kraftvoll, ideenreich; sie regt die Kreativität des Saxophonisten Klaus Doldinger an und lässt sich wieder von ihm inspirieren; Piano, Synthesizer und Mellotron setzen Akzente, der Freiraum zwischen Jazz und Rock füllt sich mit pulsierendem Leben.

Wer Passport näher kennenlernen möchte und nicht viel Zeit hat, sollte sich auf jeden Fall ihre Platte „Doldinger Jubilee Concert“ anhören, auf der die Gruppe mit Berühmtheiten wie Brian Auger, Johnny Griffin, Alexis Korner, Volker Kriegel und Pete York zusammenspielt. Es handelt sich hierbei um den Mitschnitt eines Jubiläumskonzert in der Düsseldorfer Rheinhalle im Oktober 1973, das, nach dieser Platte zu urteilen, wirklich ein Konzert der Superlative gewesen sein muss. Passport war damals schon eine der wenigen deutschen Gruppen der Güteklasse A – und mit diesen Gastmusikern konnte eigentlich kaum noch etwas schief gehen, so dass die Musik auf diesem Album Doldinger at his best ist.

Ray Davies, Other People’s Lives, 2006

Produzent/ Ray Davies

Label/ V2

Ray Davies, der 1963 die Kinks gründete und mit Songs wie „Sunny Afternoon“ sowie sozial-satirischen Konzept-Alben wie „The Village Green Preservation Society“ Klassiker der Popmusik schrieb, dieser brillante Chronist des britischen Kleinbürgerlebens, wurde im Juni 2025 einundachtzig Jahre alt. Auf seinem ersten Soloalbum „Other People’s Lives“ aus dem Jahre 2006 demonstriert er, was den Meister ausmacht: Ausgereiftes, mit leichter Hand serviertes Handwerk und Charisma. Viel Autobiografisches sei in die Songs eingeflossen, liess er verlauten – seine Erfahrungen mit dem „American Way of Life“ zu Beispiel.

Begleitet von seiner Liveband, die einen frischen Britpop spielt, klingt Davies zeitgemäss und doch klassisch. Mit seiner unverkennbaren, leicht näselnden Stimme geisselt er abgefuckte Dritte-Welt-Touristen, gibt den Misanthropen oder lästert über miese Komiker. „All She Wrote“ und „Creatures Of Little Faith“ schildern kaputte Beziehungen. Auch „After The Fall“ strotzt vor Pessimismus. „Next Door Neighbour“ grenzt an Selbstparodie (die privaten Disaster von Mr. Brown und Mr. Smith werden genüsslich in Kinks Manier zitiert). Ein schönes Alben, das mir ans Herz gewachsen ist.

Bob Dylan, Together Through Life, 2009

Produzent/ Jack Frost

Label/ Columbia

Schnell geschrieben, schnell eingespielt, schnell aufgenommen: „Together Trough Life“ war fast so fix im Kasten wie seine Alben in den 60ern. Entsprechend unangestrengt klingt das alles. Dank dem Akkordeon von David Hidalgo (Los Lobos), das stoisch und unbeirrbar immer wieder auftaucht, Tex-Mex-Gitarren und Gypsy-Blues tut sich auch musikalisch allerhand. Dylan schwitzt in der Sonne Mexikos, schlägt nach Fliegen und trinkt Tequila. Man kann es entspannt, sommerlich, leicht nennen. Erst recht, wenn man im Roadtrip von „If You Ever Go To Houston“ durch die Vereinigten Staaten reist. Allein diese Geschichte erzählt das Coverfoto von Bruce Davidson, der für die Magnum-Serie „Brooklyn Gang“ vor mehr als 60 Jahren jenes küssende Pärchen auf dem Autorücksitz festhielt. Träumerisch, verklärt. Gibt es etwas schöneres als Liebe?

Die Gitarre am Ende von „Beyond Here Lies Nothin’“ weiss ebenfalls davon zu berichten. Sie zerreisst die flirrende Luft, beisst sich durch den walzenden Blues und widersetzt sich Dylans Idee: „Nothin‘ done / And nothin‘ said.“ Es ist zum Heulen schön. Genauso wie das zärtliche „Life Is Hard“. Man schmeckt die trockene Luft, man steht im eigenen Schweiss, lüftet seinen Hut, dreht die nächste Kippe. Und hört dem alten Mann zu wie er in „I Feel A Change Comin‘ On“ singt, dass Träume nie etwas bewirkt hätten. Der grosse Tag sei fast vorüber. Nur die Reichen mehren ihr Vermögen. Er höre lieber Billy Joe Shaver und lese James Joyce. Am Schluss grüsst er noch mit „It’s All Good“. Natürlich ist nichts gut, ausser Musik und Laune.

Patti Smith Group, Radio Ethiopia, 1976

Produzent/ Jack Douglas

Label/ Arista

Bei einem meiner frühen Aufenthalte in London kaufte ich mir „Horses“ im Virgin-Plattenladen an der Oxford Street. Das deutsche „Sounds“ kaufte ich eine Woche später am Berner Bahnhofskiosk. Hier wurde sehr geschwärmt von Patti Smith. Das elegante Cover machte den Kauf noch unwiderstehlicher. Zu Hause erfasste mich Patti Smiths Debütalbum mit voller Wucht. Das zweite Album „Radio Ethiopia“ fand ich eher noch spannender. Es war wilder, weniger pathetisch und irgendwie einfach symphatischer.

Am 12. Oktober 1976 erlebte ich sie in der Roten Fabrik in Zürich – breitbeinig in augenfunkelnder Kampfpose schrie sie ins Mikrofon:  „Where do we fight?“ und jedesmal antwortet die Band im Chor: „In the field!“, kurz bevor sie dann loslegten mit „My Generation“. Und bei „Radio Ethiopia“, live on stage, die Smith mit ihren typischen Unterbrechungen zwischen den Songs. Sie improvisierte im Monolog über ägyptische Kalligraphie und Körpersprache, versuchte sich an einer positiven Definition von Faschismus, schweifte ab und verlor ein paar Sekunden den roten Faden, bevor sie sich wieder auffing, an den Bühnenrand sprang und wie ein Derwisch tanzte und stampfte zum Rock & Roll ihrer Band. Unter den Anwesenden in der gut gefüllten Fabrikhalle schienen sich einige Konzertbesucher aber provoziert zu fühlen. Jedenfalls liess dann jemand eine Tränengasbombe los, das halbe Publikum suchte das Weite, der Rest heulte ins T-Shirt, Smith und die Band spielten einfach weiter als sei nichts passiert. Grandios!

Tony Joe White, Hoodoo, 2013

Produzent/ Jody White

Label/ Yep Roc Records

Bereits die ersten dreissig Sekunden geben uns alles, was wir von Tony Joe White erwarten. Ein monoton treibendes Boogie-Intro dunkel gestimmter Instrumente führt uns geradewegs auf den Friedhof: „I was sitting in the graveyard late one night/ I didn’t know what to do“ oder so ähnlich – Tony Joe White ist nicht der am saubersten artikulierende Sangeskünstler. Nicht nur die verschleppten Blues- und Boogie-Rhythmen, nicht nur der auf das Wesentliche reduzierte Sound, auch Stimme und Texte dienen in erster Linie dem Beschwören von Stimmungen. Und davon bekommt man auf „Hoodoo“ eine grosszügige Ladung: Sumpf und schwüle Hitze, Mücken und Alligatoren, dichtes Unterholz und ruhiges Wasser, Nächte auf dem Friedhof und Begegnungen mit einsamen Männern und zwielichtigen Wesen.

„Hoodoo“, das Tony Joe White für das Label Yep Roc aufnahm, zeigt den 2018 im Alter von 75 Jahren verstorbenen Meister des Swamp-Rock nochmals in Hochform: Phlegmatisch, über seine Gitarre gebeugt, den Hut tief über die Stirn gezogen, mit seinen Kumpels jammend, dann und wann ins Mikrophon nuschelnd oder in die Mundharmonika pustend – und sich immer wieder zum Fischen verabschiedend, um nicht nur Fische aus dem Wasser zu ziehen, sondern auch neue Songs aus seinem Kopf.