Lou Reed, New York, 1988

Produzent/ Lou Reed, Fred Maher

Label/ Sire

Lou Reed setzt sich das James-Joyce-Brillengestell auf die Nase und wünscht seinen Hörern den gleichen intellektuellen Spass beim Hören seiner Musik und seiner Texte, den er bei der Lektüre von „Finnegans Wake“ empfindet. Jeder andere müsste sich bourgeoises Grossmaul schimpfen lassen. Er nennt sein Album „New York“, und bittet darum dieses doch in einem Durchlauf zu hören, „wie man einen grossen Roman liest“. Bei jedem anderen käme der Verdacht auf, er wolle den Status der Metropole als altbackenen Werbegag missbrauchen. Doch Lou Reed geht hier mit der gleichen Ernsthaftigkeit zur Sache, mit der er zuvor bisexuell, drogenabhängig, cholerisch, ausschweifend, depressiv war. Diese Haltung hat ihm über die Jahre hinweg zu mehr Einfluss auf die Rockszene verholfen als viel anderen Berühmtheiten. So ist auch nicht verwunderlich, dass der vierzehnteilige Songzyklus „New York“ gleich nach seinem Erscheinen sofort als klassisch, als vollendet, als Rockmusik in bisher noch nie dargewesener Synthese von Text, Musik und Präsentation angesehen wurde.

Musikalisch werden zwei Gitarren, Bass und Schlagzeig sowie Lou Reeds unverwechselbarem Bariton mit Rock, Bluegrass, Jazz und Blues zusammengeführt, ohne dass daraus eine dieser Bindestrich-Stilrichtungen wird. Die Texte sind perfekt in die Musik eingearbeitet. Grundtendenz ist eine ethisch motivierte Aggression verbunden mit klarer, empfindsamer Poesie, die die an mancher Stelle aufgestellte Behauptung widerlegt, „New York“ sei ein naturalistisches Werk. „You can’t depend on the goodly hearted: The goodly hearted made lampshades and soap.“ Die da nur das Beste wollten, machten aus der Haut ihrer Opfer Lampenschirme und aus ihren Knochen Seife. Das ist kein Naturalismus, das ist Wahrheit. Auch wenn es sich bei dem Album nicht um den grossen musikalischen „New York“-Roman handelt, so ist bei aller Selbstüberschätzung zumindest festzuhalten, dass die Platte sicherlich die besten Texte enthält, die Lou Reed je verfasst hat. Beeindruckend die Intensität von „Dime Store Mystery“, Lou Reeds Abschied von seinem Freund Andy Warhol, und die brachiale Schönheit von „There is no Time“.

Lou Reed, This Magic Moment, 1995

Text/Musik/ Mort Shuman, Doc Pomus

Produzent/ Lou Reed

Label/ Rhino Records

„This Magic Moment“ war 1960 – mit Ben E. King als Leadsänger – ein Hit für die Drifters. 1968 gab es eine schnulzige Coverversion von Jay and the Americans und 1969 wurde der Song nochmals von Marvin Gaye interpretiert. Lou Reed hatte „This Magic Moment“ 1995 aufgenommen für das dem 1991 verstorbenen Songschreiber Doc Pomus gewidmete Tribute-Album „Till The Night Is Gone“.

Reed versuchte den Song, und das von den Drifters verbreitete Gefühl des Wunderbaren, aus der dumpfigen Grube des Hipster-Zynismus herauszuholen, doch er war nur mit halbem Herzen bei der Sache – seine Performance war mehr ein Studie in Sachen Coolness, als ein Unsere-Liebe-wird-nie-enden-Versprechen. Reeds Aufnahme erwachte erst ein Jahr später zum Leben, als David Lynch sie heranzog, um jenen Moment in „Lost Highway“ zu untermalen, wo die von Patricia Arquette gespielte Gangsterbraut in einer Autowerkstatt einem schwarzen Cadillac-Kabrio entsteigt und, in Superzeitlupe, an Balthazar Gettys Mechaniker vorbeigeht, der von ihrem Anblick völlig überwältigt ist. „Nimm dich in acht!“ sagt der Song, so wie Reed ihn in die Saiten seiner elektrischen Gitarre drischt. „Du wirst das Gesicht dieser Frau nie mehr vergessen! Lebend wirst du aus diesem Song nicht herauskommen“.

Lou Reed, New Sensations, 1984

Produzent/ John Jansen, Lou Reed

Label/ RCA

Eigentlich war Lou Reed ein Schriftsteller, der die Kurzgeschichte in einem Song untergebracht hat. Er hat über Dinge erzählt, die mit ihm geschehen sind und die er erfahren hat. Auch mit „New Sensations“ hat Lou Reed für sich ein paar der wichtigsten Eindrücke im Moment festgehalten, welche da sind: Liebe zu Frauen („I love You Suzanne“), Eifersucht (“Endlessly Jealous“), Pechvögel („Turn To Me“, „My Friend George“). Am liebsten widmet sich Lou Reed seinem Motorrad („New Sensations“), von dessen Rücken er sich die Welt besieht.

Musikalisch bleibt das Ganze eben Lou Reed. Sein Gesang und seine Gitarre müssen einfach um Haaresbreite schief liegen. Der beste Beweis: „Turn To Me“. Das erste Drittel des Songs besteht nur aus Lou Reed plus Gitarre, bevor ein Chor den Einsatz der restlichen Musikinstrumente einleitet. Trotz Chor und Horn Section sind die Stücke fast sparsam gespielt. Ausser über Personen und Erlebnisse, erzählt Lou Reed hauptsächlich von sich. „Doing The Things That We Want To Do“ ist eine Widmung an alle, die ihn mögen und seine Vorliebe für Typen wie Travis Bickle aus „Taxi Driver“ mit ihm teilen – mit dem Kopf durch die Wand gehen. Den persönlichen Abschluss des Albums ist „Down At The Arcade“, ein mehr oder weniger selbstkritischer Song aus der „Weltmeisterposition“ eine alten Rock’n’Rollers: „Down at the arcade… Oh, I’m the Great Defender and I really think I’ve got it made…“

Velvet Underground, Rock & Roll, 1970

Text/Musik/ Lou Reed

Produzent/ Geoff Haslam, Shel Kagan

Label/ Atlantic

In „Rock & Roll“ erzählt Lou Reed die Geschichte des Mädchens Jenny, das in New Jersey lebt und sich tödlich langweilt. Bis Jenny eines Tages im Radio einen New-York-Radiosender hört, der Rock’n’Roll spielt und sie davor bewahrt, sich umzubringen oder vor der Tristesse ihrer Kleinstadt zu kapitulieren. Doch nicht nur jener Jenny, sondern auch Lou Reed selbst hat Rock’n’Roll das Leben gerettet. Aus Angst, ihr Sohn könnte homosexuell sein, und weil seine Stimmung oft von einem Augenblick zum nächsten so sehr umschlug, dass sie sich Sorgen machten, schickten ihn die Eltern 1959 zu einem Psychiater, der ihm eine achtwöchige Behandlung mit Elektroschocks in einem Spital verschrieb. Seine Eltern fanden nichts dabei, ihn mit Stromstössen von jeglicher Abnormalität zu kurieren, denn schliesslich war so eine Therapie damals in Amerika ziemlich verbreitet.

Obwohl Lou Reed seinen Eltern nie verzieh, dass sie ihn mit Elektroschocks behandeln liessen, begab er sich 1970 nachdem er Velvet Underground verliess, erneut in ihre Obhut. Ein Jahr lang arbeitete er als Aushilfe im Büro seines Vaters, eines Steuerberaters. Dann kehrte er seinem Elternhaus definitiv den Rücken. Die Geschichte von Jenny, der Rock’n’Roll das Leben gerettet hat, ist auf dem vierten und letzten Studioalbum von Velvet Underground.

Lou Reed, Street Hassle, 1978

Produzent/ Lou Reed, Richard Robinson

Label/ Arista

Ein Teil von Lou Reeds „Street Hassle“ wurde 1977 live in München und Ludwigshafen aufgenommen (das Publikum wurde rausgemischt). Das Album war binaural abgemischt, ein Versuch, die 3D-Studioatomsphäre in Stereo hinzukriegen, was erst durch das digitale Multitrack-Verfahren von heute gelingt. Im Hintergrund quengelt sich eine hart rockende Band durch zwei, drei Akkorde, darüber honkt gelegentlich ein Saxophon. Vorne ist Lou. So cool, dass er kaum den Mund aufmacht, so aufgeschwemmt und mit Drogen vollgepumpt, dass sein Gesang hechelnd und daher übertreibend geil wirkt. Der Popstar am Scheideweg: Ertrinken oder Schwimmen. Lou Reed entschloss sich bald nach „Street Hassle“ zu schwimmen, zu heiraten, zum Klassiker zu werden, ja sogar zum Gutmenschen. Aber zu „Street Hassle“-Zeiten war ihm ein issue noch ein Tissue, mit dem man sich den Hintern wischt: Downtown-Manhattan-Ennui at its best. Höhepunkt ist das elfminütige Titelstück, eine Punkrock-Suite über Liebe, Sex und „Waltzing Mathilda“, das Lied der Australier. Hat noch keiner besser gemacht.

Lou Reed, Transformer, 1972

Produzenten/ David Bowie, Mick Ronson

Label/ RCA

Was an „Transformer“ sofort auffällt ist die stilistische Vielseitigkeit. Leider ist das aber durchaus nicht unproblematisch, denn die Flexibilität liegt keineswegs immer im Song selbst, sondern drückt sich vordergründig nur durch das Arrangement aus, ohne die musikalische Substanz entsprechend mitwachsen zu lassen. Ein Beispiel für ein solch verfehltes Konzept ist „Good Night Ladies“, das wohl nur als Veralberung der Nostalgiewelle einige Berechtigung hat. Auch „New York Telephone Conversation“ und „Make Up“ sind wegen ihrer langweiligen Melodie ziemlich schwach auf der Brust.

Die Platte gehörte sicher nicht zu meinen Favoriten des Jahres 1973. Wenn ich „Transformer“ unterm Strich dennoch ein gutes Album nennen muss, dann liegt das an den übrigen Songs, die alle mittlerweile beste Lou-Reed-Klassiker geworden sind. „Vicious“ „Walk On The Wild Side“, „Wagon Wheel“ sind dabei die besten Tracks, wobei auch sie in der Form erheblich voneinander abweichen. Ein phantastisches Beispiel für den spezifisch dekadenten Charme des Lou Reed ist „Walk On The Wild Side“. Hier wird der simple Song-Rohstoff durch eine grossartige Bearbeitungs-Ideen auf eine hohe Qualitätsebene transformiert. Der eigenwillige Text über die damaligen Freaks aus Warhols Factory wird mit aussagestarker Musik befrachtet, die dank ihrer Substanz ein übereifriges Arrangement überhaupt nicht nötig hat.

„Transformer“ wurde auf dem Höhepunkt des Glamrocks veröffentlicht. Lou Reed gelang es damals wegen künstlerischen Differenzen und seiner Drogensucht nicht richtig im Mainstream anzukommen. Dass er zwei Jahrzehnte später zu einer Konstante der breiten Rockmusik wurde, liegt auch an der Zeitlosigkeit von „Transformer“.

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Lou Reed, Rock & Roll, 1969

Text/Musik/ Lou Reed

Produzent/ Lou Reed

Label/ RCA

Rock ist überall, er war es nicht immer. Früher rauschte er auf der Mittelwelle, wenn überhaupt. Bevor MTV und die Privatradios ihn überallhin verbreiteten, musste er entdeckt werden. Lou Reed’s Song „Rock & Roll“, zum ersten Mal gespielt mit den Velvet Underground, ist halb Satire, halb Bekenntnis und lässt die Entdeckung wie eine Bekehrung aussehen: “ Jenny said, when she was just five years old/ There was nothin‘ happening at all/ Every time she puts on the radio/ There was nothin‘ goin‘ down at all, not at all/ Then, one fine mornin‘, she puts on a New York station/ You know, she couldn’t believe what she heard at all/ She started shakin‘ to that fine, fine music/ You know, her life was saved by rock’n’roll/ Despite all the imputations/ You know, you could just go out/ And dance to a rock’n’roll station“.

Das war 1969. Und zeigt schon das Problem, über Rock zu schreiben, ohne ihn zu hören. Zunächst passen Text und Musik nicht zusammen. Das Stück ist kein Rock’n’Roll-Stück, eher eine Folk-Nummer. Erst auf dem Live-Album „Rock N Roll Animal“ und an seinen Konzerten hat Reed den Song dann unter Strom gesetzt. Sein Gesang bleibt aber auch dort unterkühlt. Es war Mitch Ryder, der ehemalige Sänger der Detroit Wheels, der in seiner Version das Versprechen gesanglich/gestisch einlöste. Das verlieh der Nummer Kraft, brachte sie aber um ihre Ambivalenz.

Man muss nämlich gehört haben, wie achtlos Reed das Lied intoniert. Als traue er der Intensität nicht, die er beschwört. Er verspottet sie, indem er übertreibt, das Wort „Rock’n’Roll“ höhnisch dehnt, seine halbstarke Pose parodierend. Er geht auf Distanz, indem er Banales wiederholt und betont, scheinbar überflüssigerweise „not at all“ hinzusetzt, das „de-spite all the im-pu-ta-tions“ betont abhebt und in der zweiten Strophe bei „fine, fine music“ in mokierendes Falsett ausbricht. Ein Komiker wie Lou Reed tut das nicht ohne Absicht. Die Absicht ist, heiss zu sein und cool zu bleiben.