Billie Holiday, The Lady Lives, 1999

Produzent/ ESP Disk

Label/ ESP Disk

Dieses Album enthält Rundfunkaufnahmen von Billie Holiday aus den Jahren 1949 bis 1952. In den Linernotes erfährt man, dass die sterbenskranke Sängerin noch wenige Tage vor ihrem Tod im Hospitalbett offiziell unter Arrest gestellt wurde, nachdem ihre Aufnahme zuvor von einem anderen Krankenhaus überhaupt verweigert worden war. Die hier veröffentlichten Rundfunkmitschnitte von Live-Auftritten Billie Holiday’s sind beinahe mehr geeignet, das Phänomen „Lady Day“ zu dokumentieren, als es ihre Autobiografie, ihre grossartigen Aufnahmen und die grossenteils erschreckenden späten Platten sind. Die Sängerin wird plötzlich greifbar, wenn man ihre Antwort auf das banal-arrogante Gewäsch der US-Night-Club-Conferenciers, etwa dem New Yorker „Apollo“ oder dem Bostoner „Storyville“ hört, das den Stücken jeweils vorangeht.

Erstaunlich ist auch der hörbare Wandel der Sängerin in den vorliegenden Aufnahmen. Am intensivsten sind die Titel „My Man“ und „Tenderly“. Das Album kann man nicht zum blossen Vergnügen anhören, aber man sollte es jedem, der heute Showbiz betreibt, einflössen.

The Ramsey Lewis Trio, The In Crowd, 1965

Produzent/ Esmond Edwards

Label/ Argo

„The In Crowd“ war eine bahnbrechendes Album des Soul Jazz, der Mitte der 60er Jahre populär wurde. Mit ihm meldete sich ein tänzerisches Element in den Jazz zurück, das mit dem Verklingen des Swing fast völlig untergegangen war. Ein funkiger Sound mit repetitiven Rhythmen, der oft zeitgenössische Pophits aufgriff.

Ramsey Lewis wurde 1935 in Chicago geboren. Mit vier Jahren bekam er Klavierunterricht, mit sieben trat er in Kirchen auf, mit 15 gründete er eine Band und mit 21 veröffentlichte er sein erstes Album. Bis zum grossen Durchbruch brauchte es dann allerdings noch neun Jahre und 18 Alben.

„The In Crowd“ wurde live im Bohemian Caverns Club in Washington D.C. aufgenommen. Eine damals mondäne Nachtclubszenerie zeigt auch das Cover. Doch anfangs liess das Publikum keine Stimmung aufkommen. Erst gegen ein Uhr morgens, als die Nachtschwärmer hereinkamen, wurde es lockerer. Das Trio spielte „The In Crowd“ und sofort begann das Publikum zu klatschen. Es wirkt alles sehr einfach und lässig, was Ramsey Lewis macht, aber er ist ein fabelhaft effektsicherer Pianist. Sein gedämpftes Spiel wird durch Glissandi dynamisch aufgelockert, wobei er das vergleichsweise simple Basismotiv ständig variiert und erweitert, ohne die harmonische Korrektheit zu vernachlässigen.

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John Coltrane, A Love Supreme, 1964

Produzent/ Bob Thiele

Label/ Impulse Records

Ob es Gott gib, weiss ja keiner so genau. Auf jeden Fall aber gibt es diesen Gong und gleich darauf diese Fanfare, Altes Testament und Neues Testament – und so beginnt dieses Album, das John Coltrane angeblich in fünf Tagen geschrieben hat.

Nach dem Präludium führt der Bass das Leitmotiv ein. Wer das Album zum zweiten Mal hört, hört ihn brummeln: „A-Love-Sup-reme. A-Love-Sup-reme.“ Und das Schlagzeug lässt die Lobpreisung schwingen. Man merkt: Das hier ist etwas anderes als die Coolness eines Miles Davis oder die Virtuosität eines Charlie Parker. Ernster, pathetischer. Es ist als nehmen wir teil an einem Gottesdienst, aber an einem, der uns überrascht und glücklich macht. Eine Art überirdischer Liebesdienst.

Man muss diese halbe Stunde am Stück hören, sonst ist es sinnlos. Und bitte nicht im Auto, beim Putzen, Essen, oder als Untermalung beim Candlelight Dinner. Hören Sie das Album nach einem anstrengenden Arbeitstag gemütlich im Sessel, oder Nachts auf dem Balkon mit der letzten Flasche Bier, schauen Sie in den Sternenhimmel, konzentrieren Sie sich auf die Musik.

Coltrane ist ein Prediger, der durchs Saxophon zu uns spricht. Ein manischer Prediger, bis in die äusserste Faser inspiriert. Das Saxophonspiel, in das ein Geist hineinzufahren scheint und das sich dann in immer höhere Höhen schraubt – von hier stammt es, hier passt es hin. Auch dabei: McCoy Tyner, der das Piano spielt wie ein kunstsinniger Jesuit, also der Mission verpflichtet, aber nie komplett dogmatisch; Drummer Elvin Jones als wirbliger, dabei stets untertäniger Messdiener; Bassist Jimmy Garrison als Diakon des Grooves, der uns tanzen lässt.

Irgendwann raunt John Coltrane ins Mikrofon: „A-Love-Sup-reme. A-Love-Sup-reme.“ Wir haben verstanden, irgendwie.

Miles Davis, We Want Miles, 1982

Produzent/ Theo Macero

Label/ Columbia Records

Das Album „We Want Miles“ gefällt mir ausserordentlich gut. Eine packende Mischung aus Rhythmus und weichen, klaren Stellen, ruhig, melodisch, Ruhepause, dann wieder Tempo. Intensität. Jazz. Ob er nun der Grösste war oder nicht, spielt keine Rolle, es zählt die Musik. Bei der werde ich nachdenklich und melancholisch. Oder: in einem dunklen Café sitzen, durch Milchglasscheiben schauen, träumen – aber hellwach. Oder: Im 31. Stock eines Hochhauses. Vielleicht New York. Wie immer: Miles Davis versteht es als Bandleader elegant mit dem Klangraum umzugehen und nur die nötigsten Noten zu spielen. Al Foster am Schlagzeug und Marcus Miller am Bass grooven lässig und reduziert. Mike Sterns heftige Rockausfälle an der Gitarre wirken stellenweise deplatziert und Bill Evan’s Tenorsaxophon manchmal formelhaft. Die Band insgesamt aber ist exzellent, der Sound ungewöhnlich kompakt und Miles an der Trompete ein Charismatiker. Kategorien, Mauern, Stecknadeln fallen… Miles away… Ich trinke den Rest kalten Kaffee in der Tasse auf dem Schreibtisch aus. Ein Blick auf die Uhr. Das Fenster ganz weit öffnen. Room-Service. „Hallo???“ –  „We want Miles!“

Wayne Shorter, JuJu, 1964

Produzent/ Alfred Lion

Label/ Blue Note

Das vielleicht schönste Album von Wayne Shorter ist „JuJu“. Shorter, der später bei Miles Davis und Weather Report seine Brötchen verdiente, arbeitet hier mit dem frisch verlassenen Coltrane-Trio (Elvin Jones, Reggie Workman und McCoy Tyner) und klingt selbst teilweise wie der Meister, wenn auch um reizvolle Differenzen weniger abgeklärt, und erweist sich als Komponist satter, geiler Brocken, wie sie in den frühen 60ern überall an der Schwelle zur Atonalität entstanden.

Das Titelstück „JuJu“, ein anderes Wort für Voodoo, knüpft in der Struktur und Reduktion an einen afrikanischen Gesang an. „Deluge“ ist ein abstrakter Blues vom Fluss der Dinge an sich in musikalischer Form. „House of Jade“ ist eine Zusammenarbeit von Shorter mit seiner Frau Irene. Der Name „Mahjong“ bezieht sich auf ein in den 30ern in Amerika beliebtes chinesisches Spiel. „Yes Or No“ sind die Gegensätze Dur („Yes“) und Moll („No“) als Spannungspole des Ausdrucks. Und „Twelve Bars To Go“ schliesslich ist mal wieder ein guter Blues. Im weiteren Sinne des Wortes.

Charles Mingus, Mingus at Antibes, 1976

Produzent/ Nesuhi Ertegün

Label/ Atlantic

Mingus beim internationalen Jazz- Festival an der Französisch Riviera in Antibes im Jahre 1960. In seiner Band: Ted Curson, Eric Dolphy, Booker Ervin, Dannie Richmond und Bud Powell als „special guest“.

Eine Live-Aufnahme aus der Zeit als Jazz eine seiner kreativsten Phasen erlebte: Ornette Colemans Free Jazz, Coltranes Ole, Cecil Taylors Traumquartett mit Buell Neidlinger und Archie Shepp. Und Charlie Mingus war einer der Leute, die diese Explosion neuer Musik vorbereitet und gefördert hatten. Die Jahre 1960 – 1964 waren auch die Höhepunkte seiner Karriere. Und es ist bezeichnend, für die gesamte Jazz-Geschichte, dass von 1964 – 1970, vier der grössten Musiker starben: Albert Ayler, John Coltrane, Eric Dolphy und Bud Powell. Zwei davon sind auf diesem Album zu hören.

Diese Toten wurden nie ersetzt und die wenigen Höhepunkte, die Rock-Jazz in den 70er Jahren unbestritten hatte, können auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass das was sich später Jazz nennt, vollends zum gepflegten, energielosen Zeitvertrieb verkommen ist. Wie toll, energisch, wuchtig, wild und spannend Jazz einmal war, zeigen Alben wie dieses. „Mingus at Antibes“ ist grosse Klasse. Die Musik kann dich voll erwischen und mitnehmen.

Verschiedene, Jack Kerouac – 100 Years Of Beatitude, 2022

Produzent/ Marc Mittelacher

Label/ Bear Family Records

Am 12. März wäre Jack Kerouac 100-jährig geworden. Das würdigt Bear Family Records mit der Doppel-CD „Jack Kerouac – 100 Years of Beatitude“, einem musikalisch-literarischen Streifzug durch die Beat-Ära. Kerouac war Teil einer Literatur- und Künstlerszene gewesen, der Beat-Generation um Leute wie Allen Ginsberg, Lawrence Ferlinghetti und William S. Burroughs. Diese provozierten die 50er-Jahre künstlerisch, gesellschaftlich und politisch und legten damit das Fundament für die Gegenkultur der Sixties und darüber hinaus für die New Yorker Punk-Szene. Doch es ist hier nicht der Ort, Historie und Bedeutung der Beat-Generation aufzurollen, das macht der zwischen die beiden CDs geklemmte, reizvoll illustrierte Essay von Roland Heinrich Rumtreiber (sic!) bestens. Neben ein paar Ausschnitten aus Lesungen und Interviews von Kerouac und Ginsberg gibt es viel Musik. Zum einem die Songs von Jazzmusikern, die die Beats inspirierten – Dizzy Gillespie, Charlie Parker, Chet Baker etwa, aber auch andere Stücke aus dem weiten Bereich von Be Bop, Swing bis Rock’n’Roll.

Letztlich unterstreicht die Doppel-CD, wie sehr der ursprünglich literarische Aufbruch der Beats schon früh die Sphäre der Kultur verliess, zur Lebenshaltung wurde und in der Mitte der Gesellschaft stattfand und deshalb eine grosse subversive Wirkung entfaltete. Kerouac und Ginsberg waren Popstars, Sprachrohre ihrer Generation, verehrt, bewundert, umstritten, gehasst und überwacht. Ginsberg ging in dieser Rolle auf; Kerouac zerbrach daran.

The Gil Evans Orchestra Plays The Music Of Jimi Hendrix, 1974

Produzent/ Mike Lipskin

Label/ RCA Victor, Bluebird

Miles Davis liebte nicht nur die Musik von Jimi Hendrix, sondern auch seine bunten („weissen“) Klamotten; die er ähnlich bald selbst anzog. Selbst als Miles Davis Frau Betty in die Girlande der Hendrix-Frauen abwanderte und sich von Miles scheiden liess, behielt dieser die Freundschaft zu Hendrix bei. Sie hatten Pläne für eine gemeinsame Musik. Ebenso Pläne mit Gil Evans, dem Pianisten und Bandleader, der mit Miles Davis den Big Band Sound des Cool Jazz erfunden und mit ihm die „Sketches Of Spain“ aufgenommen hatte; sich aber dann immer stärker dem Free-Spiel , inspiriert von Sun Ra, zuwandte. Er bestückte seine Band mit einer E-Gitarre und produzierte eine ganze LP mit Hendrix Stücken ohne Vocals; immer wieder gespielt von Gil-Evans-Formationen in den Jahrzehnten nach Hendrix’ Tod, am schönsten in einem Konzert in Hamburg im Oktober 1986.

Der Trompeter, der die rasanten Soli bläst in Gil Evans’ Hendrix-Bearbeitungen, heisst Miles – Miles Evans hatte Gil Evans seinen Sohn getauft, als Hommage an seine epochalen Collaborations mit Miles Davis. Und der Sohn hat es ausgehalten. Er ist ein phantastischer Trompeten-Spieler geworden. Vielleicht hätte sich Jimi Hendrix sowas auch gewünscht mit seinem Vater Al. Der konnte aber nur gut tanzen, nicht spielen.

Miles Davis, Bitches Brew, 1970

Produzent/ Teo Macero

Label/ Columbia Records

Miles Davis war ein unkonventioneller Musiker. Er hatte den Jazz bereits mehrmals neu erfunden, als er mit 43 Jahren zu seiner wohl innovativsten Schaffensphase ansetzte. Für den Trompeter standen neben künstlerischen Ambitionen damals auch geschäftliche Interessen im Vordergrund. Während er sich für kleine Gagen in winzigen Clubs abmühte, begeisterten junge Rockbands Tausende Menschen bei bestens bezahlten Stadionkonzerten: Jimi Hendrix, Carlos Santana und Sly Stone waren nur einige von vielen Musikern, die harmonische und rhythmische Konzepte von Davis übernommen hatten. Nun wollte der Meister sich auch ein Stück von diesem Kuchen abschneiden.

Insgesamt 12 Musiker (darunter Wayne Shorter, Chick Corea und John McLaughlin, Joe Zawinul und Billy Cobham) holte Davis Ende August 1969 zu sich in die Studios der New Yorker Plattenfirma Columbia. Das 1970 erschienene Doppelalbum „Bitches Brew“, das bei diesen Sessions entstand, gilt als Geburtsstunde des sogenannten Jazzrock. Die freien Improvisationen von Davis‘ Grossformation mit multiplen Keyboardern, Perkussionisten und Bassisten tönen wie ein musikalischer Höllenritt. Weil auf „Bitches Brew“ jeder Musiker zugleich ein Solist ist, drohen die losen Soundstrukturen immer wieder auseinanderzubrechen. Schon das Eröffnungsstück „Pharaoh’s Dance“ hat eine brodelnde Intensität, die bis zum sanft versöhnlichen Finale „Sanctuary“ nicht abebbt.

„Bitches Brew“ war für Miles Davis der Höhepunkt seiner Karriere. Immerhin hatte sich das Album 500.000 Mal verkauft. Gerne berichtete Davis, dass ihm das Konzept aus weniger Jazz und mehr Rock den Durchbruch bei der Hippie-Generation brachte; gerne berichtete er aber auch von Aktien und sechsstelligen Einnahmen oder von seinem Lamborghini.

Tony Allen, The Source, 2017

Produzent/ Bertrand Fresel, Vincent Taurelle

Label/ Blue Note

Er war einer der nicht sehr häufigen Drummer, der mit seinem Instrument eine ganze Musikrichtung prägte. Ja, der im Grunde eine eigene Musikrichtung war. Tony Allens Spiel hört sich – für westliche Ohren jedenfalls – so an, als würde er ständig unglaublich genau und funky stolpern. Es gab und gibt hier sonst keinen, der so spielt.

In den 70ern war Allen der wichtigste Mann in Fela Kutis Band Africa ’70. Er verliess später die Band, weil er fand, dass Kuti seine Dringlichkeit verlor und sich auf Tour mit einer Horde mitgenommener Freunde zerstreute, statt Musik zu machen. Danach spielte Allen mit Manu Dibango und arbeitete am Afrofunk, sozusagen der um Hip-Hop erweiterten, modernisierten Version des Afrobeat. Dass Tony Allen heute auch bei vielen Pop- und Rock-Hörer bekannt ist, geht auf Damon Albarn zurück, der 2006 eine Band mit Allen, Paul Simonon von The Clash und Simon Tong von The Verve gründete: The Good, The Bad & The Queen. Tony Allen spielte später auch auf Soloplatten von Albran und der Cosmic-Dance-Supergroup Rocket Juice and the Moon. Exellent stilvoll gekleidet und musikalisch insistent trat Allen praktisch bis zuletzt an World-Music, Funk- und Rock-Festivals auf.

Seine womöglich allertollstes Vermächtnis ist aber die Schallplatte „The Source“: 2017 hatte der in Paris lebende Drummer aus Nigeria mit Musikern der französischen Jazzszene auf rein analogem Wege elf Titel eingespielt, die er zusammen mit dem Sopransaxofonisten Yann Jankielewicz komponiert hatte. Diese bieten eine abwechslungsreiche Mischung aus Jazz und Afrobeat, wobei mal diese Spielart dominiert, mal jene. Es kommt nicht häufig vor, dass man bei einem Album durchgängig am mitgrooven ist. Bei jedem einzelnen Stück lohnt es sich insbesondere auf das Schlagzeugspiel zu achten. 77 Jahre alt war Tony Allen als das Album aufgenommen wurde, und er verkörperte noch einmal die Zukunft der Musik. Mit knappen, trocken rausgehauenen und dabei extrem variablen Mustern aus Snare-, Hihat- und Bassdrum-Schlägen treibt er die Groovemusik voran und verspricht eine unerbittliche, aber bessere und grössere Welt.